p1b_176.001 Der zur Allegorie greifende Dichter erreicht die größte Wirkung, wenn p1b_176.002 er den abstrakten Begriff in seinen Wirkungen veranschaulicht, wenn er also p1b_176.003 z. B. die Liebe, den Glauben, die Sorge, den Mangel, den Gram so malt, p1b_176.004 wie es etwa Shakespeare in obigem Beispiel thut, wo er die Mutter des p1b_176.005 Prinzen Arthur um den verlorenen Sohn klagen läßt; wie es ferner Goethe p1b_176.006 thut, indem er Mangel, Schuld, Sorge und Not als vier graue Weiber einführt, p1b_176.007 von denen z. B. die Sorge durchs Schlüsselloch einschleicht &c.; wie es p1b_176.008 Rückert macht, indem er - seine Bilder konsequent durchführend - in seiner p1b_176.009 zu wenig gekannten politischen, aristophanisch gehaltenen Komödie "Napoleon" p1b_176.010 Freiheit und Gleichheit als zwei Dirnen darstellt, ferner das Proletariat als p1b_176.011 Ohnehos, Ohnestrumpf und Ohneschuh.
p1b_176.012 Wir geben eine Probe:
p1b_176.013 St. Georg: Halt! wags nicht, verblendete Dirne!
p1b_176.014 Wags nicht mit deiner entweihenden Hand die Königsblumen zu knicken.
p1b_176.015 Gleichheit (indem sie zwei Lilienstengel bricht):
p1b_176.016 So ist es nun mir, der Gleichheit, geglückt, euch auch zur Gleichheit zu bringen!
p1b_176.017 So seid ihr von eueren Höhn nun herab, ihr Königsblumen, gestiegen.
p1b_176.018 Ohnehos (mit Ohnestrumpf und Ohneschuh):
p1b_176.019 Wir drei hier sind die große Nation, von welcher ihr alle müßt wissen;
p1b_176.020 Wir drei hier sind die große Nation, wir müssen das Lachen verbitten;
p1b_176.021 Wir drei hier sind die große Nation, ich sag es zum letzten und dritten.
p1b_176.022 Wir leben, wie edelen Völkern geziemt, zusammen als eine Familie.
p1b_176.023 Jch bin der Vater, die Kinder sind das, es sind zwei Zwillingsgeschwister u. s. w.
p1b_176.024 Eine schöne Art natürlicher Allegorie ist die zwischen redender und bildender p1b_176.025 Kunst stehende Blumensprache. Auch die darstellende Kunst liebt die p1b_176.026 Allegorie. Jn ihr erscheinen Hoffnung, Glaube, Liebe, Tugend, Tod, Gerechtigkeit p1b_176.027 &c. wie menschliche Gestalten, die man nur an ihren Attributen erkennt. p1b_176.028 So z. B. wird die Hoffnung mit dem Anker, die Liebe mit dem Herzen, der p1b_176.029 Tod mit Stundenglas und Sense, die Gerechtigkeit mit der Wage dargestellt. p1b_176.030 Der Löwe gilt als Bild der Stärke, der Schmetterling für die Unsterblichkeit. p1b_176.031 Man nennt diese Art Allegorie in der plastischen Kunst allegorische Personifikation.
p1b_176.032
p1b_176.033 Die Allegorie in der Poesie kann durch Vereinigung von Allegorien und p1b_176.034 Sinnbildern zu einem abgerundeten Gedicht werden, welches man mit p1b_176.035 dem gleichen Namen "Allegorie" belegt. Darüber findet sich das Nähere im p1b_176.036 2. Band d. B. (Vgl. auch § 32 dieses Bandes.)
p1b_176.037 § 40. Die Distribution.
p1b_176.038 Die Distribution (merismos == Verteilung == distributio) besteht p1b_176.039 in Zerlegung (Teilung) des Begriffs in seine Besonderheiten, welche p1b_176.040 möglichst vollständig vorgeführt werden. Die Summe der Teile ergiebt p1b_176.041 den vollen Begriff.
p1b_176.042 Distributive Begriffe, Namen, Wörter &c. sind den kollektiven p1b_176.043 Begriffen und Wörtern &c., welche zusammenfassen (z. B. Menschheit, Gesellschaft,
p1b_176.001 Der zur Allegorie greifende Dichter erreicht die größte Wirkung, wenn p1b_176.002 er den abstrakten Begriff in seinen Wirkungen veranschaulicht, wenn er also p1b_176.003 z. B. die Liebe, den Glauben, die Sorge, den Mangel, den Gram so malt, p1b_176.004 wie es etwa Shakespeare in obigem Beispiel thut, wo er die Mutter des p1b_176.005 Prinzen Arthur um den verlorenen Sohn klagen läßt; wie es ferner Goethe p1b_176.006 thut, indem er Mangel, Schuld, Sorge und Not als vier graue Weiber einführt, p1b_176.007 von denen z. B. die Sorge durchs Schlüsselloch einschleicht &c.; wie es p1b_176.008 Rückert macht, indem er ─ seine Bilder konsequent durchführend ─ in seiner p1b_176.009 zu wenig gekannten politischen, aristophanisch gehaltenen Komödie „Napoleon“ p1b_176.010 Freiheit und Gleichheit als zwei Dirnen darstellt, ferner das Proletariat als p1b_176.011 Ohnehos, Ohnestrumpf und Ohneschuh.
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p1b_176.015 Gleichheit (indem sie zwei Lilienstengel bricht):
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p1b_176.022 Wir leben, wie edelen Völkern geziemt, zusammen als eine Familie.
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p1b_176.024 Eine schöne Art natürlicher Allegorie ist die zwischen redender und bildender p1b_176.025 Kunst stehende Blumensprache. Auch die darstellende Kunst liebt die p1b_176.026 Allegorie. Jn ihr erscheinen Hoffnung, Glaube, Liebe, Tugend, Tod, Gerechtigkeit p1b_176.027 &c. wie menschliche Gestalten, die man nur an ihren Attributen erkennt. p1b_176.028 So z. B. wird die Hoffnung mit dem Anker, die Liebe mit dem Herzen, der p1b_176.029 Tod mit Stundenglas und Sense, die Gerechtigkeit mit der Wage dargestellt. p1b_176.030 Der Löwe gilt als Bild der Stärke, der Schmetterling für die Unsterblichkeit. p1b_176.031 Man nennt diese Art Allegorie in der plastischen Kunst allegorische Personifikation.
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p1b_176.038 Die Distribution (μερισμός == Verteilung == distributio) besteht p1b_176.039 in Zerlegung (Teilung) des Begriffs in seine Besonderheiten, welche p1b_176.040 möglichst vollständig vorgeführt werden. Die Summe der Teile ergiebt p1b_176.041 den vollen Begriff.
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Die Allegorie in der Poesie kann durch Vereinigung von Allegorien und p1b_176.034
Sinnbildern zu einem abgerundeten Gedicht werden, welches man mit p1b_176.035
dem gleichen Namen „Allegorie“ belegt. Darüber findet sich das Nähere im p1b_176.036
2. Band d. B. (Vgl. auch § 32 dieses Bandes.)
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Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882, S. 176. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik01_1882/210>, abgerufen am 21.11.2024.
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