p1b_229.001 die altklassische Quantitätsmessung. Ja, sie versuchten es selbst, p1b_229.002 durch diese Zeitmessung ähnlich gutklingende, regelrechte deutsche Verse zu bilden, p1b_229.003 wie wir sie bei den Griechen finden. Das Volk, welches schon die Verse p1b_229.004 der Meistersänger nicht liebte, verhielt sich ablehnend gegen das p1b_229.005 griechische Quantitätsprinzip und gegen die ungeschlachten, unsangbaren, gekünstelten p1b_229.006 Verse seiner Vertreter. Das Vestafeuer der deutschen Poesie glomm p1b_229.007 nur noch im Volkslied fort, das nach den accentuierenden p1b_229.008 Prinzipien der Minnesinger aus dem deutschen Sprachgefühlp1b_229.009 herausblühte.
p1b_229.010 2. Jn diese trostlose Zeit fiel im 17. Jahrh. die Entdeckung des p1b_229.011 Betonungsprinzips durch Opitz, wovon wir im nächsten Kapitel sprechen p1b_229.012 wollen. Aber trotz dieses Ereignisses, ja, trotz der Leistungen der schlesischen p1b_229.013 Dichterschulen verließen im 18. Jahrh. bedeutende Männer die dem deutschen p1b_229.014 Sprachgeist abgelauschten Vorschriften und suchten das Heil in der Rückkehr zu p1b_229.015 den griechischen Maßen und zum Quantitätsprinzip. Klopstock und seine p1b_229.016 Schule leisteten ein Erkleckliches in Einführung der quantitierenden und in p1b_229.017 Verdrängung der accentuierenden Prosodie. Joh. Heinrich Voß suchte das p1b_229.018 Quantitätsprinzip in seiner "Zeitmessung der deutschen Sprache" zu p1b_229.019 begründen. Er schied in lange, kurze und mittelzeitige Silben, hat aber doch p1b_229.020 neben seiner Quantität auch der Qualität der Silben einige Beachtung geschenkt, p1b_229.021 wodurch er sich davor bewahrte, allzuhäufig gegen den Sprachgeist zu verstoßen, p1b_229.022 ja, wodurch er in den meisten Fällen die Betonung mit der Zeitmessung notdürftig p1b_229.023 in Einklang brachte. Die deutsche Sprache widersetzte sich seiner gräcisierenden p1b_229.024 Metrik. Aber er zwang sie in seiner Unermüdlichkeit durch geschraubte p1b_229.025 Wortbildungen und unnatürliche, unbeliebt gebliebene Zusammensetzungen, p1b_229.026 weniger in eigenen Versen als in seinen "steifen" Übersetzungen.
p1b_229.027 Von ihm - den man übrigens im Hinblick auf Materie der Sprache p1b_229.028 und auf die mechanischen Gesetze den treuesten Übersetzer nennen kann - p1b_229.029 urteilt W. Menzel: "Geist und Seele sind ihm unter den groben Fingern p1b_229.030 verschwunden. Er hat in seinen Übersetzungen den eigentümlichen Charakter p1b_229.031 und die natürliche Grazie der deutschen Sprache ausgetrieben und der liebenswürdigen p1b_229.032 Gefangenen eine Zwangsjacke angezogen, in der sie nur noch steife p1b_229.033 und unnatürliche, krampfhafte Bewegungen machen konnte. Sein wahres Verdienst p1b_229.034 besteht darin, daß er eine große Menge guter, aber veralteter, nur im p1b_229.035 Volke üblicher Wörter in die moderne Schriftsprache einführte. Die meisten p1b_229.036 dieser Übertragungen sind so sklavisch treu und darum undeutsch, daß sie erst p1b_229.037 verständlich werden, wenn man das Original liest." Jn der That: ob Voß p1b_229.038 den Hesiod, Homer, Theokrit, Virgil, Ovid, Horaz, Shakespeare oder ein altes p1b_229.039 Minnelied übersetzt, überall zeigt sich die auch von Rückert getadelte "Steifigkeit", p1b_229.040 überall hören wir das bocksteife Roß seiner Quantität klappernd traben, auch der p1b_229.041 allgewaltige Genius Shakespeares vermag ihn nicht um ein geringes aus dem p1b_229.042 Trabe zu bringen. Selbst seine, ein höheres Dichtertalent bekundende Luise p1b_229.043 und seine Jdyllen sind Repräsentationen der Philisterei und Familienhätschelei p1b_229.044 seines Jahrhunderts, und der Schlafrock und die Schlafmütze wirken durch
p1b_229.001 die altklassische Quantitätsmessung. Ja, sie versuchten es selbst, p1b_229.002 durch diese Zeitmessung ähnlich gutklingende, regelrechte deutsche Verse zu bilden, p1b_229.003 wie wir sie bei den Griechen finden. Das Volk, welches schon die Verse p1b_229.004 der Meistersänger nicht liebte, verhielt sich ablehnend gegen das p1b_229.005 griechische Quantitätsprinzip und gegen die ungeschlachten, unsangbaren, gekünstelten p1b_229.006 Verse seiner Vertreter. Das Vestafeuer der deutschen Poesie glomm p1b_229.007 nur noch im Volkslied fort, das nach den accentuierenden p1b_229.008 Prinzipien der Minnesinger aus dem deutschen Sprachgefühlp1b_229.009 herausblühte.
p1b_229.010 2. Jn diese trostlose Zeit fiel im 17. Jahrh. die Entdeckung des p1b_229.011 Betonungsprinzips durch Opitz, wovon wir im nächsten Kapitel sprechen p1b_229.012 wollen. Aber trotz dieses Ereignisses, ja, trotz der Leistungen der schlesischen p1b_229.013 Dichterschulen verließen im 18. Jahrh. bedeutende Männer die dem deutschen p1b_229.014 Sprachgeist abgelauschten Vorschriften und suchten das Heil in der Rückkehr zu p1b_229.015 den griechischen Maßen und zum Quantitätsprinzip. Klopstock und seine p1b_229.016 Schule leisteten ein Erkleckliches in Einführung der quantitierenden und in p1b_229.017 Verdrängung der accentuierenden Prosodie. Joh. Heinrich Voß suchte das p1b_229.018 Quantitätsprinzip in seiner „Zeitmessung der deutschen Sprache“ zu p1b_229.019 begründen. Er schied in lange, kurze und mittelzeitige Silben, hat aber doch p1b_229.020 neben seiner Quantität auch der Qualität der Silben einige Beachtung geschenkt, p1b_229.021 wodurch er sich davor bewahrte, allzuhäufig gegen den Sprachgeist zu verstoßen, p1b_229.022 ja, wodurch er in den meisten Fällen die Betonung mit der Zeitmessung notdürftig p1b_229.023 in Einklang brachte. Die deutsche Sprache widersetzte sich seiner gräcisierenden p1b_229.024 Metrik. Aber er zwang sie in seiner Unermüdlichkeit durch geschraubte p1b_229.025 Wortbildungen und unnatürliche, unbeliebt gebliebene Zusammensetzungen, p1b_229.026 weniger in eigenen Versen als in seinen „steifen“ Übersetzungen.
p1b_229.027 Von ihm ─ den man übrigens im Hinblick auf Materie der Sprache p1b_229.028 und auf die mechanischen Gesetze den treuesten Übersetzer nennen kann ─ p1b_229.029 urteilt W. Menzel: „Geist und Seele sind ihm unter den groben Fingern p1b_229.030 verschwunden. Er hat in seinen Übersetzungen den eigentümlichen Charakter p1b_229.031 und die natürliche Grazie der deutschen Sprache ausgetrieben und der liebenswürdigen p1b_229.032 Gefangenen eine Zwangsjacke angezogen, in der sie nur noch steife p1b_229.033 und unnatürliche, krampfhafte Bewegungen machen konnte. Sein wahres Verdienst p1b_229.034 besteht darin, daß er eine große Menge guter, aber veralteter, nur im p1b_229.035 Volke üblicher Wörter in die moderne Schriftsprache einführte. Die meisten p1b_229.036 dieser Übertragungen sind so sklavisch treu und darum undeutsch, daß sie erst p1b_229.037 verständlich werden, wenn man das Original liest.“ Jn der That: ob Voß p1b_229.038 den Hesiod, Homer, Theokrit, Virgil, Ovid, Horaz, Shakespeare oder ein altes p1b_229.039 Minnelied übersetzt, überall zeigt sich die auch von Rückert getadelte „Steifigkeit“, p1b_229.040 überall hören wir das bocksteife Roß seiner Quantität klappernd traben, auch der p1b_229.041 allgewaltige Genius Shakespeares vermag ihn nicht um ein geringes aus dem p1b_229.042 Trabe zu bringen. Selbst seine, ein höheres Dichtertalent bekundende Luise p1b_229.043 und seine Jdyllen sind Repräsentationen der Philisterei und Familienhätschelei p1b_229.044 seines Jahrhunderts, und der Schlafrock und die Schlafmütze wirken durch
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Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882, S. 229. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik01_1882/263>, abgerufen am 22.11.2024.
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