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Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882.

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Ernste, milde, tränumerische, p1b_236.002
Unergrünndlich sünße Nacht.(Lenau.)

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(Man sieht, daß hier - dem Metrum entsprechend - je die 1., 3., 5. p1b_236.004
und 7. Silbe jeder Verszeile betont ist, und daß der Ton immer auf eine p1b_236.005
Stammsilbe gelegt ist. Es sind durchweg 5= und 4gradige Silben verwendet; p1b_236.006
nur beim Worte "träumerische" ist die mitteltonige 3gradige Silbe isch in die p1b_236.007
Arsis gesetzt und ihr dadurch der Rang der hoch- oder volltonigen Silben p1b_236.008
verliehen. Lenau giebt uns dadurch einen tauben Verstakt, der einer solchen p1b_236.009
Nuß gleicht, in welcher man solange einen Kern vermutet, bis man sie öffnet. p1b_236.010
Wir sind gewohnt, mit der accentuierten Silbe einen Sinn zu verbinden, was p1b_236.011
im gegebenen Fall unmöglich ist.)

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Beispiel 2 (daktylischer Rhythmus):

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Herz, nun so alt und noch immer nicht klug, p1b_236.014
Hoffst du von Tagen zu Tagen, p1b_236.015
Was dir der blünhende Frünhling nicht trug, p1b_236.016
Werde der Herbst dir noch tragen?(Rückert.)

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(Hier legt der Versrhythmus den Ton je auf die 1., 4., 7., 10. Silbe, p1b_236.018
Zu Arsen sind nur fünfgradige Silben gewählt. Die durch ihre Stellung p1b_236.019
(Thesisstellung) zu dreigradigen Silben herabgedrückten Thesen könnten bei p1b_236.020
anderem Versrhythmus fast sämtlich in der Arsis stehen. Nur widerwillig giebt p1b_236.021
das Pronomen dir in der 3. Verszeile den Ton an das gehaltlosere "was" ab.)

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Beispiel 3 (jambischer Rhythmus):

p1b_236.023
Es trängt beim Pfad im stillen Buchenhaine p1b_236.024
Ein hohes Kreuz das Bild vom Gottessohne; p1b_236.025
Das bleiche Haupt bekrännzt die Dornenkrone, p1b_236.026
Das Blut umstromt der sieben Wunden eine.
p1b_236.027

(Gottlieb Ritter: "Jhr Gebet.")

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(Jn diesem Beispiel ist je die 2., 4., 6., 8. und 10. Silbe tonlich ausgezeichnet. p1b_236.029
Sämtliche Arsen sind 5= und 4gradig.)

p1b_236.030
§ 74. Prosodische Jnkorrektheiten.

p1b_236.031
Es ist ein Vorzug unserer Sprache, daß sie den prosodischen p1b_236.032
Silbenwert von der richtigen, sprachgebräuchlichen Betonung abhängig p1b_236.033
macht und nur 5= und 4gradige Silben in der Arsis, sowie nur p1b_236.034
1=, 2= und höchstens 3gradige in der Thesis zuläßt.

p1b_236.035
Leider haben sich unsere besten Dichter Verstöße und Nachlässigkeiten, p1b_236.036
irregeleitet oder ermutigt durch die quantitierenden Jrrlehren, p1b_236.037
zu Schulden kommen lassen.

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Ērnstĕ, mīldĕ, trǟumĕrīschĕ, p1b_236.002
Ūner̆grǖndlĭch sǖßĕ Nācht.(Lenau.)

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(Man sieht, daß hier ─ dem Metrum entsprechend ─ je die 1., 3., 5. p1b_236.004
und 7. Silbe jeder Verszeile betont ist, und daß der Ton immer auf eine p1b_236.005
Stammsilbe gelegt ist. Es sind durchweg 5= und 4gradige Silben verwendet; p1b_236.006
nur beim Worte „träumerīsche“ ist die mitteltonige 3gradige Silbe isch in die p1b_236.007
Arsis gesetzt und ihr dadurch der Rang der hoch- oder volltonigen Silben p1b_236.008
verliehen. Lenau giebt uns dadurch einen tauben Verstakt, der einer solchen p1b_236.009
Nuß gleicht, in welcher man solange einen Kern vermutet, bis man sie öffnet. p1b_236.010
Wir sind gewohnt, mit der accentuierten Silbe einen Sinn zu verbinden, was p1b_236.011
im gegebenen Fall unmöglich ist.)

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Beispiel 2 (daktylischer Rhythmus):

p1b_236.013
Hērz, nŭn sŏ ālt ŭnd nŏch īmmĕr nĭcht klūg, p1b_236.014
Hōffst dŭ vŏn Tāgĕn zŭ Tāgĕn, p1b_236.015
Wās dĭr dĕr blǖhĕndĕ Frǖhlĭng nĭcht trūg, p1b_236.016
Wērdĕ dĕr Hērbst dĭr nŏch trāgĕn?(Rückert.)

p1b_236.017
(Hier legt der Versrhythmus den Ton je auf die 1., 4., 7., 10. Silbe, p1b_236.018
Zu Arsen sind nur fünfgradige Silben gewählt. Die durch ihre Stellung p1b_236.019
(Thesisstellung) zu dreigradigen Silben herabgedrückten Thesen könnten bei p1b_236.020
anderem Versrhythmus fast sämtlich in der Arsis stehen. Nur widerwillig giebt p1b_236.021
das Pronomen dir in der 3. Verszeile den Ton an das gehaltlosere „was“ ab.)

p1b_236.022
Beispiel 3 (jambischer Rhythmus):

p1b_236.023
Es trǟgt beim Pfād im stīllen Būchenhaīne p1b_236.024
Ein hōhes Krēuz das Bīld vom Gōttessōhne; p1b_236.025
Das blēiche Hāupt bekrǟnzt die Dōrnenkrōne, p1b_236.026
Das Blūt umstrȫmt der siēben Wūnden ēine.
p1b_236.027

(Gottlieb Ritter: „Jhr Gebet.“)

p1b_236.028
(Jn diesem Beispiel ist je die 2., 4., 6., 8. und 10. Silbe tonlich ausgezeichnet. p1b_236.029
Sämtliche Arsen sind 5= und 4gradig.)

p1b_236.030
§ 74. Prosodische Jnkorrektheiten.

p1b_236.031
Es ist ein Vorzug unserer Sprache, daß sie den prosodischen p1b_236.032
Silbenwert von der richtigen, sprachgebräuchlichen Betonung abhängig p1b_236.033
macht und nur 5= und 4gradige Silben in der Arsis, sowie nur p1b_236.034
1=, 2= und höchstens 3gradige in der Thesis zuläßt.

p1b_236.035
Leider haben sich unsere besten Dichter Verstöße und Nachlässigkeiten, p1b_236.036
irregeleitet oder ermutigt durch die quantitierenden Jrrlehren, p1b_236.037
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Zitationshilfe: Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882, S. 236. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik01_1882/270>, abgerufen am 22.11.2024.