p1b_267.001 Diese Einteilung ergiebt, daß die Dichter des Nibelungenepos lediglich p1b_267.002 nach Arsis und Thesis sich richteten und dem freien Rhythmus huldigten. Die p1b_267.003 Thesen waren gleichgültig, der Rhythmus bewegte sich von Arsis zu Arsis.
p1b_267.004 So war es noch zur Zeit des Minnesangs, was die im § 69 S. 225 p1b_267.005 gegebenen Beispiele zeigen. So blieb es im Volkslied bis in die Neuzeit.
p1b_267.006 2. Die Kunstdichtung hat nach der ersten Blüte der deutschen Dichtung p1b_267.007 Arsis und Thesis nicht mehr beachten zu müssen geglaubt und im Silbenzählen p1b_267.008 das Wesen des Versbaues erblickt. Und unsere gelehrten Dichter empfahlen p1b_267.009 plötzlich die Rückkehr zur musikalischen Rhythmik der klassischen Sprachen, was p1b_267.010 zu Ungeheuerlichkeiten führte, die wir in der Prosodik zeichneten. Jch erwähne p1b_267.011 wiederholend nur die Neubildungen von schweren ungeschlachten Zusammensetzungen p1b_267.012 behufs Gewinnung von Spondeen. Man that der Sprache Gewalt p1b_267.013 an, um einen Rhythmus zu erreichen, der unserem Sprachgeist fremd war und p1b_267.014 die Weiterentwickelung unserer Sprache auf lange Zeit hinaus verzögerte.
p1b_267.015 § 88. Rückkehr zum urdeutschen Rhythmus.
p1b_267.016 Das allzu eifrige Hindrängen zum quantitierenden Rhythmus p1b_267.017 der Alten konnte doch die Vorzüge unseres accentuierenden Rhythmus p1b_267.018 nicht verdunkeln.
p1b_267.019 Nunmehr dürfte es als Pflicht eines jeden verständnisvollen p1b_267.020 Dichters erscheinen, den freien deutschen Rhythmus mehr als seither p1b_267.021 zu beachten und zu pflegen.
p1b_267.022 Die steifen, geschraubten und ungelenken Verse, welche nach den Gesetzen p1b_267.023 der quantitierenden Rhythmik gebaut waren, bildeten einen grellen Abstich zu p1b_267.024 unserer beweglichen, jung gebliebenen Volkspoesie. Man wagte zwar nicht, p1b_267.025 den Griechenfreunden unter den Poeten mit wissenschaftlichen Waffen entgegenzutreten; p1b_267.026 ja, man hatte nicht einmal den Mut, sich von den fremdländischen p1b_267.027 Metren ganz los zu sagen; aber man dichtete doch auch im Geist des p1b_267.028 Volksliedes. Wenn ältere Rhythmiker lediglich am gebundenen Rhythmus in p1b_267.029 ihren Längen und Kürzen festhielten, so strebte man doch in einzelnen Dichtungen p1b_267.030 ein höheres Jdeal an, als durch einen pochenden Eisenhammer und eine p1b_267.031 klappernde Mühle erreicht wird; man erstrebte (meist unbewußt) die Rückkehr p1b_267.032 zum urdeutschen accentuierenden, freien Rhythmusprinzip. Goethe (im Faust), p1b_267.033 Schiller (in vielen Dichtungen s. § 116-122), Rückert, Geibel, Heine und p1b_267.034 viele Andere ließen mehr und mehr für den Einsichtigen die rhythmische Reihe p1b_267.035 an der Hebung fortrollen, um so deutsche Melodie zu schaffen. Sie durchbrachen p1b_267.036 die Schranken des gebundenen Rhythmus, der sich auf Kosten der p1b_267.037 Schönheit und Lebendigkeit sklavisch an's Metrum bannt. Die alten Aöden, p1b_267.038 deren göttlicher Gesang jedenfalls nur eine ziemlich monotone rhythmisch melodische p1b_267.039 Recitation war, um dem Vortrage Stil, Haltung und Melodie zu geben p1b_267.040 (wie noch heutzutage die Rhapsoden in Neapel die Abenteuer Rinaldos, die p1b_267.041 Rhapsoden in Persien die ihres Rustem vortragen), sie mochten wohl mit p1b_267.042 einer beschränkten Rhythmik auskommen. Wir Deutsche konnten uns mit streng
p1b_267.001 Diese Einteilung ergiebt, daß die Dichter des Nibelungenepos lediglich p1b_267.002 nach Arsis und Thesis sich richteten und dem freien Rhythmus huldigten. Die p1b_267.003 Thesen waren gleichgültig, der Rhythmus bewegte sich von Arsis zu Arsis.
p1b_267.004 So war es noch zur Zeit des Minnesangs, was die im § 69 S. 225 p1b_267.005 gegebenen Beispiele zeigen. So blieb es im Volkslied bis in die Neuzeit.
p1b_267.006 2. Die Kunstdichtung hat nach der ersten Blüte der deutschen Dichtung p1b_267.007 Arsis und Thesis nicht mehr beachten zu müssen geglaubt und im Silbenzählen p1b_267.008 das Wesen des Versbaues erblickt. Und unsere gelehrten Dichter empfahlen p1b_267.009 plötzlich die Rückkehr zur musikalischen Rhythmik der klassischen Sprachen, was p1b_267.010 zu Ungeheuerlichkeiten führte, die wir in der Prosodik zeichneten. Jch erwähne p1b_267.011 wiederholend nur die Neubildungen von schweren ungeschlachten Zusammensetzungen p1b_267.012 behufs Gewinnung von Spondeen. Man that der Sprache Gewalt p1b_267.013 an, um einen Rhythmus zu erreichen, der unserem Sprachgeist fremd war und p1b_267.014 die Weiterentwickelung unserer Sprache auf lange Zeit hinaus verzögerte.
p1b_267.015 § 88. Rückkehr zum urdeutschen Rhythmus.
p1b_267.016 Das allzu eifrige Hindrängen zum quantitierenden Rhythmus p1b_267.017 der Alten konnte doch die Vorzüge unseres accentuierenden Rhythmus p1b_267.018 nicht verdunkeln.
p1b_267.019 Nunmehr dürfte es als Pflicht eines jeden verständnisvollen p1b_267.020 Dichters erscheinen, den freien deutschen Rhythmus mehr als seither p1b_267.021 zu beachten und zu pflegen.
p1b_267.022 Die steifen, geschraubten und ungelenken Verse, welche nach den Gesetzen p1b_267.023 der quantitierenden Rhythmik gebaut waren, bildeten einen grellen Abstich zu p1b_267.024 unserer beweglichen, jung gebliebenen Volkspoesie. Man wagte zwar nicht, p1b_267.025 den Griechenfreunden unter den Poeten mit wissenschaftlichen Waffen entgegenzutreten; p1b_267.026 ja, man hatte nicht einmal den Mut, sich von den fremdländischen p1b_267.027 Metren ganz los zu sagen; aber man dichtete doch auch im Geist des p1b_267.028 Volksliedes. Wenn ältere Rhythmiker lediglich am gebundenen Rhythmus in p1b_267.029 ihren Längen und Kürzen festhielten, so strebte man doch in einzelnen Dichtungen p1b_267.030 ein höheres Jdeal an, als durch einen pochenden Eisenhammer und eine p1b_267.031 klappernde Mühle erreicht wird; man erstrebte (meist unbewußt) die Rückkehr p1b_267.032 zum urdeutschen accentuierenden, freien Rhythmusprinzip. Goethe (im Faust), p1b_267.033 Schiller (in vielen Dichtungen s. § 116─122), Rückert, Geibel, Heine und p1b_267.034 viele Andere ließen mehr und mehr für den Einsichtigen die rhythmische Reihe p1b_267.035 an der Hebung fortrollen, um so deutsche Melodie zu schaffen. Sie durchbrachen p1b_267.036 die Schranken des gebundenen Rhythmus, der sich auf Kosten der p1b_267.037 Schönheit und Lebendigkeit sklavisch an's Metrum bannt. Die alten Aöden, p1b_267.038 deren göttlicher Gesang jedenfalls nur eine ziemlich monotone rhythmisch melodische p1b_267.039 Recitation war, um dem Vortrage Stil, Haltung und Melodie zu geben p1b_267.040 (wie noch heutzutage die Rhapsoden in Neapel die Abenteuer Rinaldos, die p1b_267.041 Rhapsoden in Persien die ihres Rustem vortragen), sie mochten wohl mit p1b_267.042 einer beschränkten Rhythmik auskommen. Wir Deutsche konnten uns mit streng
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So war es noch zur Zeit des Minnesangs, was die im § 69 S. 225 p1b_267.005
gegebenen Beispiele zeigen. So blieb es im Volkslied bis in die Neuzeit.
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Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882, S. 267. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik01_1882/301>, abgerufen am 22.11.2024.
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