p1b_438.001 Zur Vergleichung diene folgendes französische Echo aus dem 16. Jahrhundert:
p1b_438.002 p1b_438.003
Qui requiert fort et mesure et cadance? - Dance.p1b_438.004 Qui fait souvent aux nopces residence? - Dance.p1b_438.005 Qui fait encor filles en abondance? - Dance.p1b_438.006 Qui fait sauter fols par outrecuidance? - Dance.p1b_438.007 Qui est le grand ennemy de prudence? - Dance.p1b_438.008 Qui met aux frons cornes pour euidence? - Dance.p1b_438.009 Qui fait les biens tomber en decadence? - Dance.
p1b_438.010 14. Kehrreim oder Refrain (Rundreim == versus intercalaris).
p1b_438.011 Er ist eine stetige, regelmäßige Repetitionsform, bei welcher ebensowohl p1b_438.012 einzelne Worte (ja sogar Empfindungslaute), als ganze Sätze p1b_438.013 und Satzverbindungen wiederholt werden können. Wiederholung ganzer p1b_438.014 Zeilen oder Strophen nennt man Kehrzeilen und Kehrstrophen. Je p1b_438.015 nachdem der Kehrreim zu Anfang der Strophe oder in der Mitte, oder p1b_438.016 am Ende derselben vorkommt, nennen wir ihn Anfangs=, Mittel= oder p1b_438.017 Endkehrreim. Der End- oder Schlußkehrreim ist der wirkungsvollste, p1b_438.018 da in ihm wie in einer Spitze Ton und Stimmung des Liedes ausläuft; p1b_438.019 er wird vorzugsweise Refrain genannt. Behält der Kehrreim p1b_438.020 seine Form durch das ganze Lied bei, so nennen wir ihn "fest"; p1b_438.021 bleiben sich jedoch nur einzelne Teile desselben gleich, während andere p1b_438.022 wechseln, so heißt er "flüssig".
p1b_438.023 Der Kehrreim heißt bei den Lateinern wegen seiner Einschaltung in das p1b_438.024 Gedicht versus intercalaris == Schaltvers. Bei den Griechen nennt man p1b_438.025 ihn o epodos == Nachsang. Bei den Franzosen hieß er ursprünglich p1b_438.026 Refloit, jetzt Refrain. Die Bezeichnung Kehrreim ist eigentlich nicht ganz entsprechend, p1b_438.027 da es in der antiken Poesie, wie bei uns, Refrains giebt, welchen p1b_438.028 der Reim fehlt (bei Catull vgl. z. B. 61, 62, 64; bei Theokrit Jd. 1 und 2, p1b_438.029 deutsche Beispiele finden sich unten; diese Verse sind eben nicht Kehrreime,p1b_438.030 sondern Kehrverse). Die französische Benennung Refrain (vom lat. refringerep1b_438.031 == brechen, welche eigentlich "Sprichwort" bedeutete), hat einen Vorzug, indem p1b_438.032 sie an die stetige Wiederkehr der an der Küste sich brechenden Wogen erinnert, p1b_438.033 - entsprechend dem wogenden Rhythmus der Strophe, sofern derselbe im p1b_438.034 Kehrreim einen Halt und einen Damm findet. Der Kehrreim ist aus den p1b_438.035 gottesdienstlichen Lob- und Bitt-Gesängen hervorgegangen; an deren Strophenabsätzen p1b_438.036 das Volk in das Schlußwort oder in die letzte Verszeile einstimmte, p1b_438.037 die der einzelne Sänger vorgesungen hatte. Jm Volksliede entfaltete der Kehrreim p1b_438.038 sodann seine größte Bedeutung, da dieses ursprünglich Chorgesang war und p1b_438.039 den subjektiven Dichter ganz verleugnete.
p1b_438.040 Der Kehrreim verleiht ferner den religiösen Hymnen und den patriotischen p1b_438.041 Liedern großen Effekt. Er verstärkt den Ernst und potenziert die Komik. Er ist p1b_438.042 von Natur lyrisch, setzt aber eigentlich ein episches Gedicht voraus. Jmmer neu p1b_438.043 drückt er die Empfindung aus, die durch die Reflexion des Erzählten angeregt p1b_438.044 wird; er ist also die an die Epik angereihte Lyrik. Rein episch ist er,
p1b_438.001 Zur Vergleichung diene folgendes französische Echo aus dem 16. Jahrhundert:
p1b_438.002 p1b_438.003
Qui requiert fort et mesure et cadance? ─ Dance.p1b_438.004 Qui fait souvent aux nopces residence? ─ Dance.p1b_438.005 Qui fait encor filles en abondance? ─ Dance.p1b_438.006 Qui fait sauter fols par outrecuidance? ─ Dance.p1b_438.007 Qui est le grand ennemy de prudence? ─ Dance.p1b_438.008 Qui met aux frons cornes pour euidence? ─ Dance.p1b_438.009 Qui fait les biens tomber en decadence? ─ Dance.
p1b_438.010 14. Kehrreim oder Refrain (Rundreim == versus intercalaris).
p1b_438.011 Er ist eine stetige, regelmäßige Repetitionsform, bei welcher ebensowohl p1b_438.012 einzelne Worte (ja sogar Empfindungslaute), als ganze Sätze p1b_438.013 und Satzverbindungen wiederholt werden können. Wiederholung ganzer p1b_438.014 Zeilen oder Strophen nennt man Kehrzeilen und Kehrstrophen. Je p1b_438.015 nachdem der Kehrreim zu Anfang der Strophe oder in der Mitte, oder p1b_438.016 am Ende derselben vorkommt, nennen wir ihn Anfangs=, Mittel= oder p1b_438.017 Endkehrreim. Der End- oder Schlußkehrreim ist der wirkungsvollste, p1b_438.018 da in ihm wie in einer Spitze Ton und Stimmung des Liedes ausläuft; p1b_438.019 er wird vorzugsweise Refrain genannt. Behält der Kehrreim p1b_438.020 seine Form durch das ganze Lied bei, so nennen wir ihn „fest“; p1b_438.021 bleiben sich jedoch nur einzelne Teile desselben gleich, während andere p1b_438.022 wechseln, so heißt er „flüssig“.
p1b_438.023 Der Kehrreim heißt bei den Lateinern wegen seiner Einschaltung in das p1b_438.024 Gedicht versus intercalaris == Schaltvers. Bei den Griechen nennt man p1b_438.025 ihn ὁ ἐπῳδός == Nachsang. Bei den Franzosen hieß er ursprünglich p1b_438.026 Refloit, jetzt Refrain. Die Bezeichnung Kehrreim ist eigentlich nicht ganz entsprechend, p1b_438.027 da es in der antiken Poesie, wie bei uns, Refrains giebt, welchen p1b_438.028 der Reim fehlt (bei Catull vgl. z. B. 61, 62, 64; bei Theokrit Jd. 1 und 2, p1b_438.029 deutsche Beispiele finden sich unten; diese Verse sind eben nicht Kehrreime,p1b_438.030 sondern Kehrverse). Die französische Benennung Refrain (vom lat. refringerep1b_438.031 == brechen, welche eigentlich „Sprichwort“ bedeutete), hat einen Vorzug, indem p1b_438.032 sie an die stetige Wiederkehr der an der Küste sich brechenden Wogen erinnert, p1b_438.033 ─ entsprechend dem wogenden Rhythmus der Strophe, sofern derselbe im p1b_438.034 Kehrreim einen Halt und einen Damm findet. Der Kehrreim ist aus den p1b_438.035 gottesdienstlichen Lob- und Bitt-Gesängen hervorgegangen; an deren Strophenabsätzen p1b_438.036 das Volk in das Schlußwort oder in die letzte Verszeile einstimmte, p1b_438.037 die der einzelne Sänger vorgesungen hatte. Jm Volksliede entfaltete der Kehrreim p1b_438.038 sodann seine größte Bedeutung, da dieses ursprünglich Chorgesang war und p1b_438.039 den subjektiven Dichter ganz verleugnete.
p1b_438.040 Der Kehrreim verleiht ferner den religiösen Hymnen und den patriotischen p1b_438.041 Liedern großen Effekt. Er verstärkt den Ernst und potenziert die Komik. Er ist p1b_438.042 von Natur lyrisch, setzt aber eigentlich ein episches Gedicht voraus. Jmmer neu p1b_438.043 drückt er die Empfindung aus, die durch die Reflexion des Erzählten angeregt p1b_438.044 wird; er ist also die an die Epik angereihte Lyrik. Rein episch ist er,
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Qui fait encor filles en abondance? ─ Dance. p1b_438.006
Qui fait sauter fols par outrecuidance? ─ Dance. p1b_438.007
Qui est le grand ennemy de prudence? ─ Dance. p1b_438.008
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14. Kehrreim oder Refrain (Rundreim == versus intercalaris).
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Er ist eine stetige, regelmäßige Repetitionsform, bei welcher ebensowohl p1b_438.012
einzelne Worte (ja sogar Empfindungslaute), als ganze Sätze p1b_438.013
und Satzverbindungen wiederholt werden können. Wiederholung ganzer p1b_438.014
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er wird vorzugsweise Refrain genannt. Behält der Kehrreim p1b_438.020
seine Form durch das ganze Lied bei, so nennen wir ihn „fest“; p1b_438.021
bleiben sich jedoch nur einzelne Teile desselben gleich, während andere p1b_438.022
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Refloit, jetzt Refrain. Die Bezeichnung Kehrreim ist eigentlich nicht ganz entsprechend, p1b_438.027
da es in der antiken Poesie, wie bei uns, Refrains giebt, welchen p1b_438.028
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sondern Kehrverse). Die französische Benennung Refrain (vom lat. refringere p1b_438.031
== brechen, welche eigentlich „Sprichwort“ bedeutete), hat einen Vorzug, indem p1b_438.032
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das Volk in das Schlußwort oder in die letzte Verszeile einstimmte, p1b_438.037
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sodann seine größte Bedeutung, da dieses ursprünglich Chorgesang war und p1b_438.039
den subjektiven Dichter ganz verleugnete.
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Liedern großen Effekt. Er verstärkt den Ernst und potenziert die Komik. Er ist p1b_438.042
von Natur lyrisch, setzt aber eigentlich ein episches Gedicht voraus. Jmmer neu p1b_438.043
drückt er die Empfindung aus, die durch die Reflexion des Erzählten angeregt p1b_438.044
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Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882, S. 438. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik01_1882/472>, abgerufen am 22.11.2024.
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