p1b_459.001 Balladen, deutsche rein lyrische Gedichte &c. würden daher ohne Reim ihres vornehmlichen p1b_459.002 Schmucks entbehren. Daß einem Genius auch Gedichte ohne Reim gelingen p1b_459.003 können (vgl. Goethes Seefahrt, die Musageten, Morgenklagen, der Besuch, p1b_459.004 Magisches Netz, der Becher &c.), beweist nichts gegen den Reim, da derselbe im p1b_459.005 Fall der Anwendung sicher auch diesen Gedichten zur Zierde gereicht und ihre p1b_459.006 Wirkung erhöht haben würde.
p1b_459.007 Jordan, der als Gegner des Reims der Einführung desselben "einen Teil p1b_459.008 des nationalen Unglücks" zuschreibt, an dem wir ein Jahrtausend zu tragen p1b_459.009 gehabt, nennt ihn zwar den Verwüster und Verstümmler der Sprache und p1b_459.010 namentlich den Zerstörer des Epos, für das Jordan jede Art Strophe verwirft. p1b_459.011 Aber er will doch dessen bedeutende Wirkung und eigenartige Schönheit p1b_459.012 bei gewissen Dichtungsgattungen (namentlich in gehobenen Stellen des Drama, p1b_459.013 im poetischen Pamphlet, in der komischen Dichtung &c.) nicht leugnen. Er p1b_459.014 sagt: "da wir seiner mächtig geworden sind und ihn mit Anmut und Wohllaut p1b_459.015 zu verwenden gelernt haben, ihn wegen der Qual und Einbuße, die p1b_459.016 das gekostet, wieder zu verbannen, ohne Hoffnung, das Verlorene dadurch p1b_459.017 wieder zu gewinnen, das wäre gleicher Unverstand, als wollte man einen jetzt p1b_459.018 passenden Hut fortwerfen, weil man ihn dreifach überzahlt hat, und weil er p1b_459.019 eine Zeit lang zu eng war und Kopfschmerzen verursachte." Zum Trost meint p1b_459.020 Jordan: "Ob auch Wohllaut und glatte Rhythmik schwieriger geworden sind: p1b_459.021 an Konsonanzen, die dem stabreimenden Poeten eine Fülle milder und energischer p1b_459.022 Akkorde zur Verfügung stellen, ist unsere Sprache reicher geworden, p1b_459.023 denn die Vereinigungskraft ihrer Wurzeln hat ihre Weltflora seit den Zeiten p1b_459.024 des Hildebrandlieds vielleicht verhundertfältigt."
p1b_459.025 2. Trotz seiner unbegrenzten Anwendungsbefähigung bleibt der Reim in p1b_459.026 großen Dramen besser weg, weil er der Handlung ästhetische Ruhepunkte p1b_459.027 setzt, welche die Aufmerksamkeit ablenken. Ebenso kann der Reim entbehrt p1b_459.028 werden im Roman und in der Novelle, sowie bei großen Epen, die der p1b_459.029 Anschauungspoesie angehören, die sich also nicht vom Gefühl bestimmen lassen, p1b_459.030 denen er mindestens eine Art zweizeiliger Strophe schafft, und somit die freie p1b_459.031 Bewegung hindert. Ebenso kann er bei der Ode fehlen, sowie bei pathetischen p1b_459.032 Monologen.
p1b_459.033 Jn jenem Drama, dessen Grundzug lyrisch ist (im dramatischen Gedicht), p1b_459.034 oder durch das eine komische ironische, naive Wirkung erzielt werden soll, p1b_459.035 (im feinen Lustspiel) ist der Reim nicht zu tadeln. Als Beispiele guter Verwendung p1b_459.036 erwähne ich: Rückerts Napoleon, Platens Verhängnisvolle Gabel, p1b_459.037 Goethes Faust, sowie (aus neuester Zeit). Doczi's Kuß.
p1b_459.038 3. Der Reim wurde nachweislich in allen Versmaßen angewandt. Dadurch p1b_459.039 widerlegt sich die leichtfertige Behauptung, daß er nur für jambische und p1b_459.040 trochäische, höchstens noch für daktylische Verse anwendbar sei. Allerdings p1b_459.041 eignet er sich am besten für Jamben und Trochäen; aber er nimmt sich auch p1b_459.042 ganz gut in kurzen anapästischen und daktylischen Reihen aus, sofern der Versrhythmus p1b_459.043 kein Übergewicht über ihn erlangen kann.
p1b_459.001 Balladen, deutsche rein lyrische Gedichte &c. würden daher ohne Reim ihres vornehmlichen p1b_459.002 Schmucks entbehren. Daß einem Genius auch Gedichte ohne Reim gelingen p1b_459.003 können (vgl. Goethes Seefahrt, die Musageten, Morgenklagen, der Besuch, p1b_459.004 Magisches Netz, der Becher &c.), beweist nichts gegen den Reim, da derselbe im p1b_459.005 Fall der Anwendung sicher auch diesen Gedichten zur Zierde gereicht und ihre p1b_459.006 Wirkung erhöht haben würde.
p1b_459.007 Jordan, der als Gegner des Reims der Einführung desselben „einen Teil p1b_459.008 des nationalen Unglücks“ zuschreibt, an dem wir ein Jahrtausend zu tragen p1b_459.009 gehabt, nennt ihn zwar den Verwüster und Verstümmler der Sprache und p1b_459.010 namentlich den Zerstörer des Epos, für das Jordan jede Art Strophe verwirft. p1b_459.011 Aber er will doch dessen bedeutende Wirkung und eigenartige Schönheit p1b_459.012 bei gewissen Dichtungsgattungen (namentlich in gehobenen Stellen des Drama, p1b_459.013 im poetischen Pamphlet, in der komischen Dichtung &c.) nicht leugnen. Er p1b_459.014 sagt: „da wir seiner mächtig geworden sind und ihn mit Anmut und Wohllaut p1b_459.015 zu verwenden gelernt haben, ihn wegen der Qual und Einbuße, die p1b_459.016 das gekostet, wieder zu verbannen, ohne Hoffnung, das Verlorene dadurch p1b_459.017 wieder zu gewinnen, das wäre gleicher Unverstand, als wollte man einen jetzt p1b_459.018 passenden Hut fortwerfen, weil man ihn dreifach überzahlt hat, und weil er p1b_459.019 eine Zeit lang zu eng war und Kopfschmerzen verursachte.“ Zum Trost meint p1b_459.020 Jordan: „Ob auch Wohllaut und glatte Rhythmik schwieriger geworden sind: p1b_459.021 an Konsonanzen, die dem stabreimenden Poeten eine Fülle milder und energischer p1b_459.022 Akkorde zur Verfügung stellen, ist unsere Sprache reicher geworden, p1b_459.023 denn die Vereinigungskraft ihrer Wurzeln hat ihre Weltflora seit den Zeiten p1b_459.024 des Hildebrandlieds vielleicht verhundertfältigt.“
p1b_459.025 2. Trotz seiner unbegrenzten Anwendungsbefähigung bleibt der Reim in p1b_459.026 großen Dramen besser weg, weil er der Handlung ästhetische Ruhepunkte p1b_459.027 setzt, welche die Aufmerksamkeit ablenken. Ebenso kann der Reim entbehrt p1b_459.028 werden im Roman und in der Novelle, sowie bei großen Epen, die der p1b_459.029 Anschauungspoesie angehören, die sich also nicht vom Gefühl bestimmen lassen, p1b_459.030 denen er mindestens eine Art zweizeiliger Strophe schafft, und somit die freie p1b_459.031 Bewegung hindert. Ebenso kann er bei der Ode fehlen, sowie bei pathetischen p1b_459.032 Monologen.
p1b_459.033 Jn jenem Drama, dessen Grundzug lyrisch ist (im dramatischen Gedicht), p1b_459.034 oder durch das eine komische ironische, naive Wirkung erzielt werden soll, p1b_459.035 (im feinen Lustspiel) ist der Reim nicht zu tadeln. Als Beispiele guter Verwendung p1b_459.036 erwähne ich: Rückerts Napoleon, Platens Verhängnisvolle Gabel, p1b_459.037 Goethes Faust, sowie (aus neuester Zeit). Doczi's Kuß.
p1b_459.038 3. Der Reim wurde nachweislich in allen Versmaßen angewandt. Dadurch p1b_459.039 widerlegt sich die leichtfertige Behauptung, daß er nur für jambische und p1b_459.040 trochäische, höchstens noch für daktylische Verse anwendbar sei. Allerdings p1b_459.041 eignet er sich am besten für Jamben und Trochäen; aber er nimmt sich auch p1b_459.042 ganz gut in kurzen anapästischen und daktylischen Reihen aus, sofern der Versrhythmus p1b_459.043 kein Übergewicht über ihn erlangen kann.
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Magisches Netz, der Becher &c.), beweist nichts gegen den Reim, da derselbe im p1b_459.005
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Jordan, der als Gegner des Reims der Einführung desselben „einen Teil p1b_459.008
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Jn jenem Drama, dessen Grundzug lyrisch ist (im dramatischen Gedicht), p1b_459.034
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(im feinen Lustspiel) ist der Reim nicht zu tadeln. Als Beispiele guter Verwendung p1b_459.036
erwähne ich: Rückerts Napoleon, Platens Verhängnisvolle Gabel, p1b_459.037
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3. Der Reim wurde nachweislich in allen Versmaßen angewandt. Dadurch p1b_459.039
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trochäische, höchstens noch für daktylische Verse anwendbar sei. Allerdings p1b_459.041
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Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882, S. 459. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik01_1882/493>, abgerufen am 25.11.2024.
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