p1b_481.001 4. Zur musikalischen Befriedigung durch den Reim gesellte p1b_481.002 sich bei uns nach und nach die verstandesmäßige. Man setzte in die p1b_481.003 Reimstelle möglichst diejenigen Wörter, welche den vom Verstande oder der p1b_481.004 Empfindung am hellsten beleuchteten Begriff ausdrücken, so daß also Formp1b_481.005 und Gedanke an derselben Stelle ihren Höhepunkt fanden und der Reim p1b_481.006 ein unlösbarer Bestandteil des poetischen Körpers wurde. Also: Hervorhebung p1b_481.007 der Hauptbegriffe an der lichtvollsten Versstelle (der Reimstelle), auf die sich p1b_481.008 die Aufmerksamkeit am meisten richtet, wurde Aufgabe und Zweck des Reimes. p1b_481.009 Man teilte ihm die Stammsilben der Begriffswörter zu, die durch ihren Wortaccent p1b_481.010 von eminenter Bedeutung für den Vers sind, insofern dadurch der Reim p1b_481.011 in musikalischer, phonetischer und onomatopoetischer Hinsicht den Rhythmus zu p1b_481.012 unterstützen befähigt wird. Der Klang der bedeutendsten Begriffe, die in die p1b_481.013 Reimstelle geschoben werden, ist auf diese Weise über das Ganze hellstrahlend p1b_481.014 ergossen, da die Erinnerung dieses Klanges immer eine Zeile lang andauert, p1b_481.015 und nun erzeugt das Reim-Echo der korrespondierenden Zeile Übereinstimmung, p1b_481.016 Ebenmaß, Gliederung, Verbindung des Musikalischen mit dem Verstandesmäßigen. p1b_481.017 So ist z. B. von Goethe (der so einzig den Reim zur Gliederung des Gedankens p1b_481.018 und zur Hervorkehrung der wichtigsten Satzmomente zu benützen verstand, p1b_481.019 und dessen geniale Verwendung des deutschen Reimes im 1. Teil des p1b_481.020 Faust von Jedem beachtet werden sollte) in allen wichtigen Fällen das p1b_481.021 Begriffswort in die Reimstelle gestellt worden, so daß ihm schon aus diesem p1b_481.022 Grunde einzelne äußerliche Ungenauigkeiten oder unreine Reime bei der sonstigen p1b_481.023 inneren Bedeutung seiner Reime nachgesehen werden müssen. Man beachte, p1b_481.024 wie er z. B. bei der Stelle im Faust: Geschrieben steht: Jm Anfang p1b_481.025 war das Wort - mit großem Geschick und noch größerer Absichtlichkeit p1b_481.026 die vier Begriffe: Wort, Sinn, Kraft, That in die Reimstelle brachte, p1b_481.027 um ihnen so Bedeutung zu verleihen. (Vgl. S. 389.) Vielleicht hat er auch p1b_481.028 hier in's volle Menschenleben hineingelauscht, das so oft den Hauptbegriff p1b_481.029 durch den Reim betont (z. B. Eile mit Weile; Kunst macht Gunst u. s. w.). p1b_481.030 Wir bieten noch ein Beispiel, in welchem die Hauptvorstellungen (Herz, Schmerz, p1b_481.031 klemmen, hemmen) durch Versetzung in die Höhe der Reimstellung eine packende p1b_481.032 Gewalt erreichen:
p1b_481.033
Und fragst du noch, warum dein Herzp1b_481.034 Sich bang in deinem Busen klemmt?p1b_481.035 Warum ein unerklärter Schmerzp1b_481.036 Dir alle Lebensregung hemmt? u. s. w.
p1b_481.037 5. Der heutige Reim wurde mehr als je onomatopoetisch verwertet.p1b_481.038 Die verstandesmäßige, absichtsvoll berechnete Behandlung des Reims p1b_481.039 in unserer Zeit wußte die Wirkung desselben zu erhöhen, indem sie - wie p1b_481.040 schon aus dem obigen Goetheschen Beispiel ersichtlich - jene die Einbildungskraft p1b_481.041 anregenden bildlichen Worte von sinnlich nachahmender Kraft in die Reimstelle p1b_481.042 brachte. Dadurch unterstützte sie den Rhythmus und deutete, im Voraus p1b_481.043 den Begriff malend, onomatopoetisch an. Vgl. die am Schluß des § 28, p1b_481.044 sowie in § 93 gegebenen Beispiele.
p1b_481.001 4. Zur musikalischen Befriedigung durch den Reim gesellte p1b_481.002 sich bei uns nach und nach die verstandesmäßige. Man setzte in die p1b_481.003 Reimstelle möglichst diejenigen Wörter, welche den vom Verstande oder der p1b_481.004 Empfindung am hellsten beleuchteten Begriff ausdrücken, so daß also Formp1b_481.005 und Gedanke an derselben Stelle ihren Höhepunkt fanden und der Reim p1b_481.006 ein unlösbarer Bestandteil des poetischen Körpers wurde. Also: Hervorhebung p1b_481.007 der Hauptbegriffe an der lichtvollsten Versstelle (der Reimstelle), auf die sich p1b_481.008 die Aufmerksamkeit am meisten richtet, wurde Aufgabe und Zweck des Reimes. p1b_481.009 Man teilte ihm die Stammsilben der Begriffswörter zu, die durch ihren Wortaccent p1b_481.010 von eminenter Bedeutung für den Vers sind, insofern dadurch der Reim p1b_481.011 in musikalischer, phonetischer und onomatopoetischer Hinsicht den Rhythmus zu p1b_481.012 unterstützen befähigt wird. Der Klang der bedeutendsten Begriffe, die in die p1b_481.013 Reimstelle geschoben werden, ist auf diese Weise über das Ganze hellstrahlend p1b_481.014 ergossen, da die Erinnerung dieses Klanges immer eine Zeile lang andauert, p1b_481.015 und nun erzeugt das Reim-Echo der korrespondierenden Zeile Übereinstimmung, p1b_481.016 Ebenmaß, Gliederung, Verbindung des Musikalischen mit dem Verstandesmäßigen. p1b_481.017 So ist z. B. von Goethe (der so einzig den Reim zur Gliederung des Gedankens p1b_481.018 und zur Hervorkehrung der wichtigsten Satzmomente zu benützen verstand, p1b_481.019 und dessen geniale Verwendung des deutschen Reimes im 1. Teil des p1b_481.020 Faust von Jedem beachtet werden sollte) in allen wichtigen Fällen das p1b_481.021 Begriffswort in die Reimstelle gestellt worden, so daß ihm schon aus diesem p1b_481.022 Grunde einzelne äußerliche Ungenauigkeiten oder unreine Reime bei der sonstigen p1b_481.023 inneren Bedeutung seiner Reime nachgesehen werden müssen. Man beachte, p1b_481.024 wie er z. B. bei der Stelle im Faust: Geschrieben steht: Jm Anfang p1b_481.025 war das Wort ─ mit großem Geschick und noch größerer Absichtlichkeit p1b_481.026 die vier Begriffe: Wort, Sinn, Kraft, That in die Reimstelle brachte, p1b_481.027 um ihnen so Bedeutung zu verleihen. (Vgl. S. 389.) Vielleicht hat er auch p1b_481.028 hier in's volle Menschenleben hineingelauscht, das so oft den Hauptbegriff p1b_481.029 durch den Reim betont (z. B. Eile mit Weile; Kunst macht Gunst u. s. w.). p1b_481.030 Wir bieten noch ein Beispiel, in welchem die Hauptvorstellungen (Herz, Schmerz, p1b_481.031 klemmen, hemmen) durch Versetzung in die Höhe der Reimstellung eine packende p1b_481.032 Gewalt erreichen:
p1b_481.033
Und fragst du noch, warum dein Herzp1b_481.034 Sich bang in deinem Busen klemmt?p1b_481.035 Warum ein unerklärter Schmerzp1b_481.036 Dir alle Lebensregung hemmt? u. s. w.
p1b_481.037 5. Der heutige Reim wurde mehr als je onomatopoetisch verwertet.p1b_481.038 Die verstandesmäßige, absichtsvoll berechnete Behandlung des Reims p1b_481.039 in unserer Zeit wußte die Wirkung desselben zu erhöhen, indem sie ─ wie p1b_481.040 schon aus dem obigen Goetheschen Beispiel ersichtlich ─ jene die Einbildungskraft p1b_481.041 anregenden bildlichen Worte von sinnlich nachahmender Kraft in die Reimstelle p1b_481.042 brachte. Dadurch unterstützte sie den Rhythmus und deutete, im Voraus p1b_481.043 den Begriff malend, onomatopoetisch an. Vgl. die am Schluß des § 28, p1b_481.044 sowie in § 93 gegebenen Beispiele.
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5. Der heutige Reim wurde mehr als je onomatopoetisch verwertet. p1b_481.038
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Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882, S. 481. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik01_1882/515>, abgerufen am 22.11.2024.
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