Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882.p1b_605.001 p1b_605.009 Du Vers der Nibelungen, du bist ein Meer, ein weites, p1b_605.011 Hier ruhts so glänzend, schweigend, dort brandend an Felsen aufschreit es! p1b_605.012 Du bist der Strom der Ebne, der breit sich dehnt und reckt, p1b_605.013 Und bist auch das Bächlein der Berge, | das schakernd mit Schaumdiamanten p1b_605.014 uns neckt. p1b_605.015 Du wandelst wie in Feier ein Zug zu Domeshallen, p1b_605.016 Jm Taktschritt Truppen wallen und Narrenschellen schallen, p1b_605.017 Herolde werfen Gold aus, das Volk sich balgt an der Treppe, p1b_605.018 Der König schreitet schweigend, ein Page trängt die lange Schleppe. p1b_605.019 Du bist die Kriegsgallione, von Erzgeschossen schwer, p1b_605.020 Trugst einst als Sängerbarke mich gondelflink durchs Meer p1b_605.021 Dorthin, wo vom Balkone winkt Poesie, die Fei; - p1b_605.022 O trag auch jetzt mich wieder, zu fern nicht ihrem Herzen vorbei! p1b_605.023 Die Lohen schlugen mächtig und spiegelten im Meer, p1b_605.028 Vom Ufer zog pränchtig | des Liedes Schall daher, p1b_605.029 Bis in der feuchten Tiefe Schiff und Glut verging. p1b_605.030 Da war der Held bestattet. | Das ist das Lied von Sigurd Ring. p1b_605.031 p1b_605.034 Entfache des Geistes Leuchte zu nie gesehnem Glanz, p1b_605.036
Doch pflege du das Herz auch; | pflege den keuschen Kranz p1b_605.037 Tiefsinniger Gefünhle; | wahre duftig zart p1b_605.038 Die Blume deutschen Gemütes | im frostgen Hauch der Gegenwart. p1b_605.001 p1b_605.009 Du Vers der Nibelungen, du bist ein Meer, ein weites, p1b_605.011 Hier ruhts so glänzend, schweigend, dort brandend an Felsen aufschreit es! p1b_605.012 Du bist der Strom der Ebne, der breit sich dehnt und reckt, p1b_605.013 Und bist auch das Bächlein der Berge, │ das schǟkernd mit Schāumdiamānten p1b_605.014 uns nēckt. p1b_605.015 Du wandelst wie in Feier ein Zug zu Domeshallen, p1b_605.016 Jm Taktschritt Truppen wallen und Narrenschellen schallen, p1b_605.017 Herolde werfen Gold aus, das Volk sich balgt an der Treppe, p1b_605.018 Der König schreitet schweigend, ein Pāge trǟgt die lānge Schlēppe. p1b_605.019 Du bist die Kriegsgallione, von Erzgeschossen schwer, p1b_605.020 Trugst einst als Sängerbarke mich gondelflink durchs Meer p1b_605.021 Dorthin, wo vom Balkone winkt Poesie, die Fei; ─ p1b_605.022 O trag auch jetzt mich wieder, zu fern nicht ihrem Herzen vorbei! p1b_605.023 Die Lohen schlugen mächtig und spiegelten im Meer, p1b_605.028 Vom Ūfĕr zōg prǟchtĭg │ des Liedes Schall daher, p1b_605.029 Bis in der feuchten Tiefe Schiff und Glut verging. p1b_605.030 Da war der Held bestattet. │ Das īst das Līed von Sīgurd Rīng. p1b_605.031 p1b_605.034 Entfache des Geistes Leuchte zu nie gesehnem Glanz, p1b_605.036
Doch pflege du das Herz auch; │ pflēge den keuschen Kranz p1b_605.037 Tīefsīnnĭgĕr Gĕfǖhlĕ; │ wāhre dūftig zārt p1b_605.038 Die Blume deutschen Gemütes │ im frōstgen Hāuch der Gēgenwārt. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <pb facs="#f0639" n="605"/> <p><lb n="p1b_605.001"/> „Herzerobernder Hauf!“ wird Mancher kopfschüttelnd ausrufen, der das <lb n="p1b_605.002"/> Gesetz nicht kennt: „Wie kann ein Rückert solche Leichtfertigkeiten begehen und <lb n="p1b_605.003"/> Trochäen und Daktylen in den jambischen Rhythmus bringen?“ Wir kennen <lb n="p1b_605.004"/> den Grund! Mehrere Dichter der Neuzeit sind in <hi rendition="#g">Rückerts vorbildliche</hi> <lb n="p1b_605.005"/> Fußstapfen getreten! <hi rendition="#g">Vor Allem Anastasius Grün,</hi> der sich in einem von <lb n="p1b_605.006"/> uns zum erstenmal (nachg. Gedichte Rückerts S. 308) veröffentlichten Briefe als <lb n="p1b_605.007"/> „<hi rendition="#g">verehrungsvollsten Bewunderer des Rückertschen hehren Genius</hi>“ <lb n="p1b_605.008"/> bekennt.</p> <p> <lb n="p1b_605.009"/> <hi rendition="#g">Beispiel:</hi> </p> <lb n="p1b_605.010"/> <lg> <l>Du Vers der Nibelungen, du bist ein Meer, ein weites,</l> <lb n="p1b_605.011"/> <l>Hier ruhts so glänzend, schweigend, dort brandend an Felsen aufschreit es!</l> <lb n="p1b_605.012"/> <l>Du bist der Strom der Ebne, der breit sich dehnt und reckt,</l> <lb n="p1b_605.013"/> <l>Und bist auch das Bächlein der Berge, │ das schǟkernd mit Schāumdiamānten</l> <lb n="p1b_605.014"/> <l> <hi rendition="#et">uns nēckt.</hi> </l> <lb n="p1b_605.015"/> <l>Du wandelst wie in Feier ein Zug zu Domeshallen,</l> <lb n="p1b_605.016"/> <l>Jm Taktschritt Truppen wallen und Narrenschellen schallen,</l> <lb n="p1b_605.017"/> <l>Herolde werfen Gold aus, das Volk sich balgt an der Treppe,</l> <lb n="p1b_605.018"/> <l>Der König schreitet schweigend, ein Pāge trǟgt die lānge Schlēppe. </l> </lg> <lg> <lb n="p1b_605.019"/> <l>Du bist die Kriegsgallione, von Erzgeschossen schwer,</l> <lb n="p1b_605.020"/> <l>Trugst einst als Sängerbarke mich gondelflink durchs Meer</l> <lb n="p1b_605.021"/> <l>Dorthin, wo vom Balkone winkt Poesie, die Fei; ─</l> <lb n="p1b_605.022"/> <l>O trag auch jetzt mich wieder, zu fern nicht ihrem Herzen vorbei!</l> </lg> <p><lb n="p1b_605.023"/><hi rendition="#g">Geibel</hi> hat sein erzählendes Gedicht „<hi rendition="#g">Sigurds Brautfahrt</hi>“ in <lb n="p1b_605.024"/> mittelhochdeutschen Nibelungenstrophen mit allen Freiheiten des Nibelungenliedes <lb n="p1b_605.025"/> gedichtet. Vgl. das Beispiel in § 119, S. 376 d. B., dem ich noch die <lb n="p1b_605.026"/> Schlußstrophe des Gedichts hier zugebe:</p> <lb n="p1b_605.027"/> <lg> <l>Die Lohen schlugen mächtig und spiegelten im Meer,</l> <lb n="p1b_605.028"/> <l>Vom Ūfĕr zōg prǟchtĭg │ des Liedes Schall daher,</l> <lb n="p1b_605.029"/> <l>Bis in der feuchten Tiefe Schiff und Glut verging.</l> <lb n="p1b_605.030"/> <l>Da war der Held bestattet. │ Das īst das Līed von Sīgurd Rīng.</l> </lg> <p><lb n="p1b_605.031"/><hi rendition="#g">Hamerling</hi> hat in seinem „Vaterlandsliede“ Takte, in welchen die <lb n="p1b_605.032"/> Thesis ganz fehlt, ─ eine Freiheit, die er dem mittelhochdeutschen Nibelungenliede <lb n="p1b_605.033"/> abgelauscht hat.</p> <p> <lb n="p1b_605.034"/> <hi rendition="#g">Beispiel aus dem Vaterlandsliede:</hi> </p> <lb n="p1b_605.035"/> <lg> <l>Entfache des Geistes Leuchte zu nie gesehnem Glanz,</l> <lb n="p1b_605.036"/> <l>Doch pflege du das Herz auch; │ pflēge den keuschen Kranz</l> <lb n="p1b_605.037"/> <l><hi rendition="#g">Tīef</hi>sīnnĭgĕr Gĕfǖhlĕ; │ wāhre dūftig zārt</l> <lb n="p1b_605.038"/> <l>Die Blume deutschen Gemütes │ im frōstgen Hāuch der Gēgenwārt.</l> </lg> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [605/0639]
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„Herzerobernder Hauf!“ wird Mancher kopfschüttelnd ausrufen, der das p1b_605.002
Gesetz nicht kennt: „Wie kann ein Rückert solche Leichtfertigkeiten begehen und p1b_605.003
Trochäen und Daktylen in den jambischen Rhythmus bringen?“ Wir kennen p1b_605.004
den Grund! Mehrere Dichter der Neuzeit sind in Rückerts vorbildliche p1b_605.005
Fußstapfen getreten! Vor Allem Anastasius Grün, der sich in einem von p1b_605.006
uns zum erstenmal (nachg. Gedichte Rückerts S. 308) veröffentlichten Briefe als p1b_605.007
„verehrungsvollsten Bewunderer des Rückertschen hehren Genius“ p1b_605.008
bekennt.
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Beispiel:
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Du Vers der Nibelungen, du bist ein Meer, ein weites, p1b_605.011
Hier ruhts so glänzend, schweigend, dort brandend an Felsen aufschreit es! p1b_605.012
Du bist der Strom der Ebne, der breit sich dehnt und reckt, p1b_605.013
Und bist auch das Bächlein der Berge, │ das schǟkernd mit Schāumdiamānten p1b_605.014
uns nēckt. p1b_605.015
Du wandelst wie in Feier ein Zug zu Domeshallen, p1b_605.016
Jm Taktschritt Truppen wallen und Narrenschellen schallen, p1b_605.017
Herolde werfen Gold aus, das Volk sich balgt an der Treppe, p1b_605.018
Der König schreitet schweigend, ein Pāge trǟgt die lānge Schlēppe.
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Du bist die Kriegsgallione, von Erzgeschossen schwer, p1b_605.020
Trugst einst als Sängerbarke mich gondelflink durchs Meer p1b_605.021
Dorthin, wo vom Balkone winkt Poesie, die Fei; ─ p1b_605.022
O trag auch jetzt mich wieder, zu fern nicht ihrem Herzen vorbei!
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Geibel hat sein erzählendes Gedicht „Sigurds Brautfahrt“ in p1b_605.024
mittelhochdeutschen Nibelungenstrophen mit allen Freiheiten des Nibelungenliedes p1b_605.025
gedichtet. Vgl. das Beispiel in § 119, S. 376 d. B., dem ich noch die p1b_605.026
Schlußstrophe des Gedichts hier zugebe:
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Die Lohen schlugen mächtig und spiegelten im Meer, p1b_605.028
Vom Ūfĕr zōg prǟchtĭg │ des Liedes Schall daher, p1b_605.029
Bis in der feuchten Tiefe Schiff und Glut verging. p1b_605.030
Da war der Held bestattet. │ Das īst das Līed von Sīgurd Rīng.
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Hamerling hat in seinem „Vaterlandsliede“ Takte, in welchen die p1b_605.032
Thesis ganz fehlt, ─ eine Freiheit, die er dem mittelhochdeutschen Nibelungenliede p1b_605.033
abgelauscht hat.
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Beispiel aus dem Vaterlandsliede:
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Entfache des Geistes Leuchte zu nie gesehnem Glanz, p1b_605.036
Doch pflege du das Herz auch; │ pflēge den keuschen Kranz p1b_605.037
Tīefsīnnĭgĕr Gĕfǖhlĕ; │ wāhre dūftig zārt p1b_605.038
Die Blume deutschen Gemütes │ im frōstgen Hāuch der Gēgenwārt.
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