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Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882.

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Nachdem durch Einführung der überschlagenden Reime im 13. Jahrhundert p1b_609.002
die künstliche Strophik einmal angebahnt war, wurden die Strophen durch weitere p1b_609.003
Anwendung verschränkter, unterbrochener, umarmender Reime &c., sowie p1b_609.004
durch Einschiebung reimloser Zeilen (der sog. Waisen), endlich durch den Gebrauch p1b_609.005
von Refrains, kurzer und langer Zeilen &c. immer künstlicher und gekünstelter.

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2. Jeder Dichter hatte seinen besonderen Ton (== Strophenform). Wehe p1b_609.007
dem Dichter, der nicht in irgend einem Punkte von dem Tone des anderen p1b_609.008
Dichters abwich: er kam als Tönedieb oder Tonräuber in Verruf. Nur die p1b_609.009
in den Gemeinbesitz der Nation übergegangenen beliebten Töne konnte ein jeder p1b_609.010
ungestraft benützen. Die Zahl der Töne, die zuweilen recht volkstümliche Singweisen p1b_609.011
hatten (vgl. die Notenbeilagen in "Minnesinger" von Fr. H. v. d. Hagen. p1b_609.012
4. Bd. S. 765-852), war eine sehr bedeutende. Man stößt beim Studium p1b_609.013
der Minnesinger beispielsweise auf den Guldenton Kanzlers, auf den Guldenton p1b_609.014
Marners, den Hofton Kanzlers, den langen Ton Marners, den schwarzen p1b_609.015
Ton Klingsors, den Frauenehrenton, den kurzen, grünen, grauen, abgespitzten &c. p1b_609.016
Ton, den Briefton, die Morgenweise, die Gesangweise u. s. w. u. s. w. Bei p1b_609.017
dem Minnesinger Frauenlob (1270-1317) allein finden wir einen grünen, p1b_609.018
zarten, langen, kurzen, neuen Ton, eine Zugweis', einen Würgendrüsselton, p1b_609.019
einen Spiegelton u. s. w. Liechtenstein bietet viele Singweisen und Tanzweisen p1b_609.020
&c. Allgemein beliebte Töne waren der Bernerton, Hildebrandston u. A.

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Wir können in dieser Poetik selbstredend nur Proben von den hervorragendsten p1b_609.022
Tönen geben.

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Beispiele mittelhochdeutscher Töne.

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a. Titurelton (Reimschema: a a b x b).

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Jn dieser Strophe hat Wolfram von Eschenbach den alten Titurel p1b_609.026
geschrieben. Durch gebrochene Schreibung der beiden ersten Zeilen und p1b_609.027
Beibehaltung des Cäsurreims seitens des späteren Bearbeiters erhielt p1b_609.028
man die Strophe a b a b c x c, welche man den neuen Titurelton nannte. p1b_609.029
Jn diesem Ton ist der jüngere Titurel gedichtet.

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Jn diesem Ton hat auch Rückert seinen in meinem Buch: Nachgelassene p1b_609.031
Gedichte Rückerts (Wien, Braumüller) veröffentlichten "Jung Tristan" gedichtet. p1b_609.032
Jm 17. Jahrhundert war dieser Ton in erzählenden Gedichten in Aufnahme p1b_609.033
gekommen, die je nach Anfang oder Jnhalt als besondere Töne benannt wurden, p1b_609.034
so daß z. B. eine Singweise zu dieser Strophe "Wyßbeckenton" hieß; andere p1b_609.035
hießen "König Laslaston", "Der neue Ton von Mailand", "Ton der Pavierschlacht" p1b_609.036
oder "Pavierton" u. s. w. Vgl. S. 613 d. B.

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Beispiel der alten Titurelstrophe: (Aus Parcival und Titurel. p1b_609.038
Übersetzt von Simrock. S. 309. Stuttg. 1876.)

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Als sich der starke Titurel | noch wußte zu rühren, p1b_609.040
Er getraute wohl die Seinen | und sich selbst im Sturme zu führen; p1b_609.041
Jetzt sprach er im Alter: "Jch lerne p1b_609.042
Daß ich den Schaft muß lassen: p1b_609.043
Den schwang ich sonst so schön und so gerne.
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(Jm älteren Titurel waren die letzten beiden Zeilen in einer Zeile geschrieben.)

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Nachdem durch Einführung der überschlagenden Reime im 13. Jahrhundert p1b_609.002
die künstliche Strophik einmal angebahnt war, wurden die Strophen durch weitere p1b_609.003
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durch Einschiebung reimloser Zeilen (der sog. Waisen), endlich durch den Gebrauch p1b_609.005
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2. Jeder Dichter hatte seinen besonderen Ton (== Strophenform). Wehe p1b_609.007
dem Dichter, der nicht in irgend einem Punkte von dem Tone des anderen p1b_609.008
Dichters abwich: er kam als Tönedieb oder Tonräuber in Verruf. Nur die p1b_609.009
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Wir können in dieser Poetik selbstredend nur Proben von den hervorragendsten p1b_609.022
Tönen geben.

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Beispiele mittelhochdeutscher Töne.

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Jn dieser Strophe hat Wolfram von Eschenbach den alten Titurel p1b_609.026
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Jn diesem Ton hat auch Rückert seinen in meinem Buch: Nachgelassene p1b_609.031
Gedichte Rückerts (Wien, Braumüller) veröffentlichten „Jung Tristan“ gedichtet. p1b_609.032
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Beispiel der alten Titurelstrophe: (Aus Parcival und Titurel. p1b_609.038
Übersetzt von Simrock. S. 309. Stuttg. 1876.)

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Als sich der starke Titurel │ noch wußte zu rühren, p1b_609.040
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Zitationshilfe: Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882, S. 609. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik01_1882/643>, abgerufen am 22.11.2024.