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Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882.

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Lebensgefühl mit, das nie verlischt und große Thaten zu seinem Herzen bringt, p1b_031.002
damit er sie fühlen kann. Doch ach! Es weiß denjenigen gar nichts zu sagen, p1b_031.003
in denen es nicht sproßt, und die Wunder, die es thut, sind nicht vorhanden p1b_031.004
für den, der sie nicht nachahmen kann.

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"Willst du aber wissen, ob irgend ein Funke dieses verzehrenden Feuers p1b_031.006
deine Seele belebe? Eile, fliege nach Neapel, und höre die Meisterwerke p1b_031.007
eines Leo, eines Durante, eines Jomelli, eines Pergolese. Füllen sich deine p1b_031.008
Augen mit Thränen, schlägt dir das Herz, wirft es dich hin und her, erstickt p1b_031.009
die Zurückhaltung deinen Atem; so ergreife den Augenblick, p1b_031.010
arbeite!
Jhr Genie wird das deinige entzünden, du wirst nach p1b_031.011
ihrem Vorbilde erschaffen. Das ist Genie. Bald werden die Augen deiner p1b_031.012
Zuhörer dir die Thränen wieder zollen, die deine Meister dir abforderten. p1b_031.013
Lassen dich aber die Reize dieser großen Kunst in Ruhe, fühlst du dich weder p1b_031.014
verwirrt noch entzückt, entdeckst du gar nichts, was dich erschüttern könnte; p1b_031.015
so sei nicht zudringlich, und frage nicht weiter, was Genie sei; du bist ein p1b_031.016
Mensch von gemeinem Schlage, du entweihst dies heilige Wort."

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Jn der Stelle: "erstickt die Zurückhaltung deinen Atem, so gehe hin p1b_031.018
und arbeite!" tritt Rousseau unbewußt auf unseren Standpunkt. Gefühl, p1b_031.019
Kunstsinn, Talent macht noch nicht das Genie. Dieses ist, wie gesagt, das p1b_031.020
Resultat der Arbeit,
die freilich bei großer Urkräftigkeit der Anlagen p1b_031.021
zur höheren Kunststufe führen wird. Es ist durchaus nötig, daß man viel p1b_031.022
sehe und - wie Fröbel will - viel mache, arbeite!

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Bei richtigem interessevollem Arbeiten entdeckt man dann in einem Tage p1b_031.024
Vorteile und Kunstgriffe, die ihren Erfindern jahrelange Untersuchung und p1b_031.025
Mühe kosteten.

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Was hatte Michel Angelo gearbeitet, ehe er im Stande war, die p1b_031.027
Majestät Gottes mit dem Charakter göttlicher Hoheit zu malen! Rafael, der p1b_031.028
an demselben Problem studierte, sah heimlich seines Nebenbuhlers Kunstwerk, p1b_031.029
und sofort malte er die göttliche Majestät, daß uns ehrfurchtvolles Schaudern p1b_031.030
ergreift. (Siehe das Gewölbe der Galerie, welche zu den Zimmern des II. Stockes p1b_031.031
im Vatikan führt.) An Giorgione lernte er kolorieren. So wurde er erst p1b_031.032
nach und nach das Genie Rafael. Vervollkommnet wird das Genie in unserem p1b_031.033
Sinne nur durch vieles Arbeiten und Sehen, durch Vermehrung der Kenntnisse, p1b_031.034
durch Veredlung des Geschmacks.

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Es ist eine leichtfertige, für die Dauer unhaltbare Meinung, daß die Natur p1b_031.036
beim Genie alles thut, und daß es das Genie lähmen heißt, wenn man es p1b_031.037
den Regeln des Geschmacks und der Kunst unterwirft. Die großen Genies p1b_031.038
haben am meisten gearbeitet, und Homer ist nicht seiner Originalität wegen p1b_031.039
allein, er ist auch seiner Regelmäßigkeit wegen Muster.

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Dem Genie wird häufig auch eine angeborene, nur ihm eigene Begeisterung p1b_031.041
("Wahnsinn") vindiziert. Man nennt den genialen Dichter "begeistert", p1b_031.042
"trunken", "des Gottes voll".

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Plato geht zu weit, wenn er den Sokrates (p. 533 E.) sagen läßt: p1b_031.044
"Wie die korybantischen Tänzer nicht im bewußten Zustand tanzen, so dichten

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Lebensgefühl mit, das nie verlischt und große Thaten zu seinem Herzen bringt, p1b_031.002
damit er sie fühlen kann. Doch ach! Es weiß denjenigen gar nichts zu sagen, p1b_031.003
in denen es nicht sproßt, und die Wunder, die es thut, sind nicht vorhanden p1b_031.004
für den, der sie nicht nachahmen kann.

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„Willst du aber wissen, ob irgend ein Funke dieses verzehrenden Feuers p1b_031.006
deine Seele belebe? Eile, fliege nach Neapel, und höre die Meisterwerke p1b_031.007
eines Leo, eines Durante, eines Jomelli, eines Pergolese. Füllen sich deine p1b_031.008
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arbeite!
Jhr Genie wird das deinige entzünden, du wirst nach p1b_031.011
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Zuhörer dir die Thränen wieder zollen, die deine Meister dir abforderten. p1b_031.013
Lassen dich aber die Reize dieser großen Kunst in Ruhe, fühlst du dich weder p1b_031.014
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so sei nicht zudringlich, und frage nicht weiter, was Genie sei; du bist ein p1b_031.016
Mensch von gemeinem Schlage, du entweihst dies heilige Wort.“

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Jn der Stelle: „erstickt die Zurückhaltung deinen Atem, so gehe hin p1b_031.018
und arbeite!“ tritt Rousseau unbewußt auf unseren Standpunkt. Gefühl, p1b_031.019
Kunstsinn, Talent macht noch nicht das Genie. Dieses ist, wie gesagt, das p1b_031.020
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die freilich bei großer Urkräftigkeit der Anlagen p1b_031.021
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sehe und ─ wie Fröbel will ─ viel mache, arbeite!

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Bei richtigem interessevollem Arbeiten entdeckt man dann in einem Tage p1b_031.024
Vorteile und Kunstgriffe, die ihren Erfindern jahrelange Untersuchung und p1b_031.025
Mühe kosteten.

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Was hatte Michel Angelo gearbeitet, ehe er im Stande war, die p1b_031.027
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im Vatikan führt.) An Giorgione lernte er kolorieren. So wurde er erst p1b_031.032
nach und nach das Genie Rafael. Vervollkommnet wird das Genie in unserem p1b_031.033
Sinne nur durch vieles Arbeiten und Sehen, durch Vermehrung der Kenntnisse, p1b_031.034
durch Veredlung des Geschmacks.

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Es ist eine leichtfertige, für die Dauer unhaltbare Meinung, daß die Natur p1b_031.036
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Dem Genie wird häufig auch eine angeborene, nur ihm eigene Begeisterung p1b_031.041
(„Wahnsinn“) vindiziert. Man nennt den genialen Dichter „begeistert“, p1b_031.042
„trunken“, „des Gottes voll“.

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Plato geht zu weit, wenn er den Sokrates (p. 533 E.) sagen läßt: p1b_031.044
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Zitationshilfe: Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882, S. 31. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik01_1882/65>, abgerufen am 23.11.2024.