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Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882.

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auch die Lyriker ihre schönen Lieder nicht bewußt, sondern sind toll, wenn sie p1b_032.002
in Ton und Takt hineingeraten. Der Dichter ist ein leichtgeflügeltes, geweihtes p1b_032.003
Wesen und nicht eher zum Dichten fähig, als bis er begeistert, unbewußt und p1b_032.004
von Sinnen ist. (Vgl. Plat. Apolog. Socr. 22 B.) Ebenso Plato im Phädrus. p1b_032.005
(S. 245 vgl. § 20 dieses Buches.)

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Diesen Wahnsinn - oder (wie man es übersetzen sollte) diese aus der p1b_032.007
dichterischen Jntuition stammende Begeisterungsfähigkeit halten auch wir für sehr p1b_032.008
wesentlich. Aber wir glauben nicht, daß sie von den Musen kommt, oder, wie p1b_032.009
unsere Jdentitätsphilosophen phantasierten (was aber dasselbe ist), angeboren ist. p1b_032.010
(Vgl. hierzu Geschichte der Theorie der Kunst bei den Alten von Dr. Eduard p1b_032.011
Müller 1834, I, S. 53.) Der Begeisterung muß sich Besonnenheit vermählen, p1b_032.012
die Besonnenheit des gebildeten Geistes. (Vgl. Schiller über Bürgers Gedichte. p1b_032.013
Aristoteles Poet. c. 17 sagt: dio euphuous e poietike estin e manikou! p1b_032.014
touton gar oi men euplastoi, oi de exetastikoi eisin. Horatius A. P. p1b_032.015
309: Scribendi recte sapere est et principium et fons
. Vgl. auch p1b_032.016
Horat. A. P. 295 ff.)

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Vom gewordenen Dichter gilt, was Goethe verlangt: "Wenn ihr's nicht p1b_032.018
fühlt, ihr werdet's nicht erjagen", und: "Gebt ihr euch einmal für Poeten, p1b_032.019
so kommandiert die Poesie". Man hat oft die Ansicht aussprechen hören, daß p1b_032.020
der Lyriker im Wald und im Gebirge, in der unentweihten Natur seine Stoffe p1b_032.021
sich zu holen habe. Aber die Erfahrung lehrt, daß dieser Weg, der doch p1b_032.022
höchstens Naturschilderungen oder Betrachtungen einzubringen vermöchte, wohl p1b_032.023
zum Dilettantismus, nie aber zur Höhe der Kunst führt. Unsere Genies p1b_032.024
haben von jeher Philosophie, Geschichte, Naturwissenschaften in den Bereich ihrer p1b_032.025
dichterischen Thätigkeit gezogen. Sie haben sich mit Energie den eingehendsten p1b_032.026
wissenschaftlichen Studien hingegeben, sie alle haben auch wissenschaftliche Werke p1b_032.027
geliefert, deren Bearbeitung ihren Geist in neue, ungeahnte Bahnen lenkte, p1b_032.028
und sie auf dem Niveau der Bildung des Jahrhunderts erhielt oder darüber p1b_032.029
hinausragen ließ. Wie der Student der Neuzeit durch feineres Wesen sich vom p1b_032.030
Musensohne mit langen Haaren, staubigem Flaus, zerfetztem Schlafrock vorteilhaft p1b_032.031
unterscheidet, so verlangt man vom Dichter der Neuzeit höhere wissenschaftliche p1b_032.032
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und Geist, so muß er sich unterscheiden von jenen p1b_032.033
ignoranten Naturlyrikern, die - wie schon Horaz sagt, (weil Demokrit das p1b_032.034
Genie höher stellt, als die mühsame Kunst und die besonnenen Dichter p1b_032.035
vom Helikon ausschloß) "sich Nägel und Haare wachsen lassen, Einöden aufsuchen, p1b_032.036
Bäder meiden" u. s. w. So ist man denn zurückgekommen von jener p1b_032.037
Ansicht, die in den langen, nachlässig gekämmten Haaren, im altdeutschen p1b_032.038
Rock das Kriterium der dichterischen Begabung, des dichterischen Genies erblickt, p1b_032.039
so verlangt man auch vom Dichter, daß er sich mit dem praktischen Leben p1b_032.040
versöhne und den Vorwurf des idealen Schwärmers von sich abwehre.

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Um moderner bedeutender Poet zu sein, ist die Poesie der wissenschaftlichen p1b_032.042
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und die wissenschaftliche Erkenntnis der p1b_032.043
Poesie nötig.
Um den Vorbildern es gleich zu thun, muß man ihre p1b_032.044
Gesetze, ihre Methode kennen, - ja man muß die Resultate aller Wissenschaften

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auch die Lyriker ihre schönen Lieder nicht bewußt, sondern sind toll, wenn sie p1b_032.002
in Ton und Takt hineingeraten. Der Dichter ist ein leichtgeflügeltes, geweihtes p1b_032.003
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(S. 245 vgl. § 20 dieses Buches.)

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Diesen Wahnsinn ─ oder (wie man es übersetzen sollte) diese aus der p1b_032.007
dichterischen Jntuition stammende Begeisterungsfähigkeit halten auch wir für sehr p1b_032.008
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Müller 1834, I, S. 53.) Der Begeisterung muß sich Besonnenheit vermählen, p1b_032.012
die Besonnenheit des gebildeten Geistes. (Vgl. Schiller über Bürgers Gedichte. p1b_032.013
Aristoteles Poet. c. 17 sagt: διὸ εὐφυοῦς ἡ ποιητική ἐστιν ἤ μανικοῦ! p1b_032.014
τούτων γὰρ οἱ μὲν εὔπλαστοι, οἱ δὲ ἐξεταστικοί εἰσιν. Horatius A. P. p1b_032.015
309: Scribendi recte sapere est et principium et fons
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Vom gewordenen Dichter gilt, was Goethe verlangt: „Wenn ihr's nicht p1b_032.018
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Um moderner bedeutender Poet zu sein, ist die Poesie der wissenschaftlichen p1b_032.042
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Zitationshilfe: Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik01_1882/66>, abgerufen am 23.11.2024.