Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882.p1b_033.001 p1b_033.022 Der Poet. p1b_033.029Wer ein Poet will sein, der sei ein solcher Mann, p1b_033.030
Der mehr als Worte nur und Reime machen kann, p1b_033.031 Der aus den Römern weiß, den Griechen hat gesehen, p1b_033.032 Was für gelahrt, beredt und sinnreich kann bestehen; p1b_033.033 Der nicht die Zunge nur nach seinem Willen rührt, p1b_033.034 Der Vorrat im Gehirn und Salz im Munde führt; p1b_033.035 Der durch den bleichen Fleiß aus Schriften hat erfahren, p1b_033.036 Was Merklich's ist geschehn vor vielmal hundert Jahren, p1b_033.037 Der guten Wissenschaft mit Fleiß hat nachgedacht, p1b_033.038 Mehr Öl, als Wein verzehrt, bemüht zu Mitternacht; p1b_033.039 Der endlich aus sich selbst was vorzubringen waget, p1b_033.040 Das kein Mensch hat gedacht, kein Mund zuvor gesaget; p1b_033.041 Folgt zwar dem Besten nach, doch außer Dieberei, p1b_033.042 Daß er dem Höchsten gleich, doch selber Meister sei. p1b_033.043 Dazu gemeines Ding und kahle Fratzen meidet, p1b_033.044 Und die Erfindung auch mit schönen Worten kleidet, p1b_033.045 Der keinen lahmen Vers läßt unterm Haufen gehn, p1b_033.046 Viel lieber zwanzig würgt, die nicht für gut bestehn. p1b_033.001 p1b_033.022 Der Poet. p1b_033.029Wer ein Poet will sein, der sei ein solcher Mann, p1b_033.030
Der mehr als Worte nur und Reime machen kann, p1b_033.031 Der aus den Römern weiß, den Griechen hat gesehen, p1b_033.032 Was für gelahrt, beredt und sinnreich kann bestehen; p1b_033.033 Der nicht die Zunge nur nach seinem Willen rührt, p1b_033.034 Der Vorrat im Gehirn und Salz im Munde führt; p1b_033.035 Der durch den bleichen Fleiß aus Schriften hat erfahren, p1b_033.036 Was Merklich's ist geschehn vor vielmal hundert Jahren, p1b_033.037 Der guten Wissenschaft mit Fleiß hat nachgedacht, p1b_033.038 Mehr Öl, als Wein verzehrt, bemüht zu Mitternacht; p1b_033.039 Der endlich aus sich selbst was vorzubringen waget, p1b_033.040 Das kein Mensch hat gedacht, kein Mund zuvor gesaget; p1b_033.041 Folgt zwar dem Besten nach, doch außer Dieberei, p1b_033.042 Daß er dem Höchsten gleich, doch selber Meister sei. p1b_033.043 Dazu gemeines Ding und kahle Fratzen meidet, p1b_033.044 Und die Erfindung auch mit schönen Worten kleidet, p1b_033.045 Der keinen lahmen Vers läßt unterm Haufen gehn, p1b_033.046 Viel lieber zwanzig würgt, die nicht für gut bestehn. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0067" n="33"/><lb n="p1b_033.001"/> begreifen, um poetische Bilder wahr zu machen, um enthüllte Gesetze <lb n="p1b_033.002"/> der Natur einzuflechten, um das Jdeal dichterisch anzudeuten, nach dem die <lb n="p1b_033.003"/> Nation zu steuern hat. Uhland äußerte in dieser Beziehung einmal sehr treffend <lb n="p1b_033.004"/> zu Professor Chr. <hi rendition="#g">Schwab:</hi> „Große Dichter wirken nicht nur durch ihre Poesie, <lb n="p1b_033.005"/> sie ziehen auch andere, eigentlich der Poesie fremde Gebiete, wie Philosophie, <lb n="p1b_033.006"/> Geschichte, Naturwissenschaft in ihren Gesichtskreis, wecken dadurch Jnteresse und <lb n="p1b_033.007"/> imponieren.“ Über die Poesie herrschten namentlich zur Zeit der Romantiker <lb n="p1b_033.008"/> so verschwommene Ansichten, daß ein Dichter, welcher der Uhlandschen Forderung <lb n="p1b_033.009"/> hätte genügen wollen, in Gefahr kam, als nicht geborenes Genie verketzert zu <lb n="p1b_033.010"/> werden. Er sollte aus leerem, <hi rendition="#g">Kantischreinem</hi> Genie ein Weltbild aus <lb n="p1b_033.011"/> Nichts schaffen, bei Mondscheinbeleuchtung schwärmen, am Fluß, im Haine <lb n="p1b_033.012"/> fabulieren und diese Gedanken aufs Papier werfen, leicht, flüssig, ─ genial! <lb n="p1b_033.013"/> Man liebte und glaubte eben an die aus Nichts schaffende Wunderthätigkeit <lb n="p1b_033.014"/> des geborenen Genies. Jordan sagt: „Jn unserer gewaltigen Epoche des durch <lb n="p1b_033.015"/> wissenschaftliche Erkenntnis triumphierenden Menschengeistes war die Poesie zu <lb n="p1b_033.016"/> einem Spiel mit liebenswürdigen Kleinigkeiten ausgeartet, es war ihr fast <lb n="p1b_033.017"/> <hi rendition="#g">mythisch</hi> geworden, daß auch sie wie jede andere Kunst die ungeteilte Kraft, <lb n="p1b_033.018"/> den <hi rendition="#g">angestrengten Fleiß eines Lebens</hi> für sich allein verlange, daß <lb n="p1b_033.019"/> sie nicht minder als Architektur, Malerei, Skulptur, Musik eine mühselige Technik, <lb n="p1b_033.020"/> eine Schule des Handwerks erfordere, und eben deshalb gleich notwendig wie <lb n="p1b_033.021"/> diese Künste als alleiniger Lebensberuf zugleich ein Gewerbe sein müsse.“</p> <p><lb n="p1b_033.022"/> Wir schließen diese Erörterung durch Mitteilung der vom Begründer der <lb n="p1b_033.023"/> poetischen Satire Joachim Rachel († 1669) schon im 17. Jahrhundert an den <lb n="p1b_033.024"/> Dichter gerichteten Anforderungen, die manches Zutreffende auch für unsere Zeit <lb n="p1b_033.025"/> enthalten. (Wer die Quellen nachlesen will, findet Belege für unsere Ansicht <lb n="p1b_033.026"/> bei Plato, Aristoteles, Boileau u. A. Über erstere vgl. E. Müllers Geschichte <lb n="p1b_033.027"/> der Theorie der Kunst bei den Alten. Bd. <hi rendition="#aq">I</hi>, S. 90 ff. und Bd. <hi rendition="#aq">II</hi>, S. 109 ff.)</p> <lb n="p1b_033.028"/> <p> <hi rendition="#c"><hi rendition="#g">Der Poet</hi>.</hi> </p> <lb n="p1b_033.029"/> <lg> <l>Wer ein Poet will sein, der sei ein solcher Mann,</l> <lb n="p1b_033.030"/> <l>Der mehr als Worte nur und Reime machen kann,</l> <lb n="p1b_033.031"/> <l>Der aus den Römern weiß, den Griechen hat gesehen,</l> <lb n="p1b_033.032"/> <l>Was für gelahrt, beredt und sinnreich kann bestehen;</l> <lb n="p1b_033.033"/> <l>Der nicht die Zunge nur nach seinem Willen rührt,</l> <lb n="p1b_033.034"/> <l>Der Vorrat im Gehirn und Salz im Munde führt;</l> <lb n="p1b_033.035"/> <l>Der durch den bleichen Fleiß aus Schriften hat erfahren,</l> <lb n="p1b_033.036"/> <l>Was Merklich's ist geschehn vor vielmal hundert Jahren,</l> <lb n="p1b_033.037"/> <l>Der guten Wissenschaft mit Fleiß hat nachgedacht,</l> <lb n="p1b_033.038"/> <l>Mehr Öl, als Wein verzehrt, bemüht zu Mitternacht;</l> <lb n="p1b_033.039"/> <l>Der endlich aus sich selbst was vorzubringen waget,</l> <lb n="p1b_033.040"/> <l>Das kein Mensch hat gedacht, kein Mund zuvor gesaget;</l> <lb n="p1b_033.041"/> <l>Folgt zwar dem Besten nach, doch außer Dieberei,</l> <lb n="p1b_033.042"/> <l>Daß er dem Höchsten gleich, doch selber Meister sei.</l> <lb n="p1b_033.043"/> <l>Dazu gemeines Ding und kahle Fratzen meidet,</l> <lb n="p1b_033.044"/> <l>Und die Erfindung auch mit schönen Worten kleidet,</l> <lb n="p1b_033.045"/> <l>Der keinen lahmen Vers läßt unterm Haufen gehn,</l> <lb n="p1b_033.046"/> <l>Viel lieber zwanzig würgt, die nicht für gut bestehn.</l> </lg> </div> </div> </body> </text> </TEI> [33/0067]
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begreifen, um poetische Bilder wahr zu machen, um enthüllte Gesetze p1b_033.002
der Natur einzuflechten, um das Jdeal dichterisch anzudeuten, nach dem die p1b_033.003
Nation zu steuern hat. Uhland äußerte in dieser Beziehung einmal sehr treffend p1b_033.004
zu Professor Chr. Schwab: „Große Dichter wirken nicht nur durch ihre Poesie, p1b_033.005
sie ziehen auch andere, eigentlich der Poesie fremde Gebiete, wie Philosophie, p1b_033.006
Geschichte, Naturwissenschaft in ihren Gesichtskreis, wecken dadurch Jnteresse und p1b_033.007
imponieren.“ Über die Poesie herrschten namentlich zur Zeit der Romantiker p1b_033.008
so verschwommene Ansichten, daß ein Dichter, welcher der Uhlandschen Forderung p1b_033.009
hätte genügen wollen, in Gefahr kam, als nicht geborenes Genie verketzert zu p1b_033.010
werden. Er sollte aus leerem, Kantischreinem Genie ein Weltbild aus p1b_033.011
Nichts schaffen, bei Mondscheinbeleuchtung schwärmen, am Fluß, im Haine p1b_033.012
fabulieren und diese Gedanken aufs Papier werfen, leicht, flüssig, ─ genial! p1b_033.013
Man liebte und glaubte eben an die aus Nichts schaffende Wunderthätigkeit p1b_033.014
des geborenen Genies. Jordan sagt: „Jn unserer gewaltigen Epoche des durch p1b_033.015
wissenschaftliche Erkenntnis triumphierenden Menschengeistes war die Poesie zu p1b_033.016
einem Spiel mit liebenswürdigen Kleinigkeiten ausgeartet, es war ihr fast p1b_033.017
mythisch geworden, daß auch sie wie jede andere Kunst die ungeteilte Kraft, p1b_033.018
den angestrengten Fleiß eines Lebens für sich allein verlange, daß p1b_033.019
sie nicht minder als Architektur, Malerei, Skulptur, Musik eine mühselige Technik, p1b_033.020
eine Schule des Handwerks erfordere, und eben deshalb gleich notwendig wie p1b_033.021
diese Künste als alleiniger Lebensberuf zugleich ein Gewerbe sein müsse.“
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Wir schließen diese Erörterung durch Mitteilung der vom Begründer der p1b_033.023
poetischen Satire Joachim Rachel († 1669) schon im 17. Jahrhundert an den p1b_033.024
Dichter gerichteten Anforderungen, die manches Zutreffende auch für unsere Zeit p1b_033.025
enthalten. (Wer die Quellen nachlesen will, findet Belege für unsere Ansicht p1b_033.026
bei Plato, Aristoteles, Boileau u. A. Über erstere vgl. E. Müllers Geschichte p1b_033.027
der Theorie der Kunst bei den Alten. Bd. I, S. 90 ff. und Bd. II, S. 109 ff.)
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Der Poet.
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Wer ein Poet will sein, der sei ein solcher Mann, p1b_033.030
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Viel lieber zwanzig würgt, die nicht für gut bestehn.
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