p1b_035.001 hunderts überragt und schöpferisch, tonangebend für's folgende Jahrhundert p1b_035.002 wird, wirft seinen Lichtglanz gleich einer Sonne weit voraus p1b_035.003 auf die folgenden Jahrhunderte. Die Durchschnitts-Vernunft des p1b_035.004 Jahrhunderts begreift das Genie nur in seltenen Fällen, und doch p1b_035.005 ist es nur aus dem Einfluß der Zeit und des Jahrhunderts erblüht.
p1b_035.006 Es ist hier der Ort, dies an einigen Bahnbrechern und Revolutionären p1b_035.007 auf den Gebieten der Kunst in der Gegenwart generell nachzuweisen und deren p1b_035.008 Abhängigkeit von der Zeit und ihre Bedeutung für die Zukunft zu würdigen, p1b_035.009 zugleich auch dadurch das Gemeinsame des Fortschritts aller Künste in unserer p1b_035.010 Zeit zu illustrieren, endlich darzuthun, wie die bahnbrechenden, gewordenenp1b_035.011 Genies der unserem kritischen Blick zugänglichen Gegenwart in ihrer vorbildlichen p1b_035.012 Thätigkeit sich gleichen.
p1b_035.013 Die neueste Zeit ist eine Zeit der Unruhe, des Drängens und Treibens p1b_035.014 auf allen Gebieten, des alten und des neuen Glaubens, der Erfindungen p1b_035.015 und industriellen Umwälzungen. Was Wunder, daß auch die Kunst zur Deckung p1b_035.016 ihres Deficits an Muße die allgemeine Unruhe als Element in sich aufnimmt? p1b_035.017 Wir greifen drei beliebige Vertreter heraus, wobei wir freilich - ohne die Bekanntschaft p1b_035.018 mit deren Werken voraussetzen zu können - anticipierend von den p1b_035.019 letzteren ausgehen müssen, um den Schein willkürlicher Abstraktion zu meiden. p1b_035.020 Man betrachte also beispielsweise unter den Dichtern neuerer Bestrebungen p1b_035.021 den empordrängenden Hamerling, der wie ein umgekehrter, aus dem Reiche p1b_035.022 der Erscheinungen in's Reich der Skepsis dringender Faust erscheint. Man p1b_035.023 beachte ferner die sinnliche Derbheit unserer materialistischen Zeit in ihrem Einflusse p1b_035.024 auf die ersten Gemälde des koloristischen Reformators Makart; man p1b_035.025 würdige endlich den Einfluß der Zeit bei Richard Wagner, der mit seinem p1b_035.026 grandiosen Werk "Ring des Nibelungen" vom heutigen Theater sich lossagte. p1b_035.027 Welch bewegtes Hasten, Erhitzen, Ringen, welch ruheloses fieberhaftes Hindrängen p1b_035.028 der Dissonanzen zu Konsonanzen, der scheinbaren Melodielosigkeit zur Melodie! p1b_035.029 Welch höchste Häufung und Steigerung der Mittel, welch luxuriöses Kolorit! p1b_035.030 Hamerling ist ein aus der Zeit geborener, sie überragender philosophischer p1b_035.031 Denker und Dichter; bewundernswert durch Kühnheit und Großartigkeit der p1b_035.032 Phantasie. Makart ist der vom wilden Naturalismus zum Gedanken sich p1b_035.033 emporwühlende, kulturhistorische Maler seiner Zeit, der durch seinen Farbenreiz p1b_035.034 selbst Piloty hinter sich läßt und der Zukunft durch die Bravour p1b_035.035 des koloristischen Vortrags (ich erinnere an seine Bilder Abundantia, Todsünden, p1b_035.036 Katharina Cornaro, Die fünf Sinne, Karl V., Kleopatra) neue p1b_035.037 koloristische Bahnen zeigt; Wagner endlich ist der Dichterkomponist, der nach Art p1b_035.038 seiner Zeit die Gefühle in Gedanken umsetzt, indem sein Weg zum Herzen p1b_035.039 durch den Kopf geht. Die Übereinstimmung dieser drei Revolutionäre und p1b_035.040 ihre Wirkung liegt im großen Stil, in dem sie auftreten, in der Massenwirkung, p1b_035.041 im philosophischen Überwältigen des Herkömmlichen, in der breiten p1b_035.042 Pinselführung, im koloristischen Zauber, in der schneidenden unverhüllten Bestimmtheit p1b_035.043 des Ausdrucks.
p1b_035.001 hunderts überragt und schöpferisch, tonangebend für's folgende Jahrhundert p1b_035.002 wird, wirft seinen Lichtglanz gleich einer Sonne weit voraus p1b_035.003 auf die folgenden Jahrhunderte. Die Durchschnitts-Vernunft des p1b_035.004 Jahrhunderts begreift das Genie nur in seltenen Fällen, und doch p1b_035.005 ist es nur aus dem Einfluß der Zeit und des Jahrhunderts erblüht.
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Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik01_1882/69>, abgerufen am 24.11.2024.
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