Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Zweiter Band. Stuttgart, 1883.p2b_081.001 "Nur das Einmaleins soll gelten, p2b_081.004 p2b_081.007Hebel, Walze, Rad und Hammer! p2b_081.005 Alles andre, öder Plunder, p2b_081.006 Flackre in der Feuerkammer." (Weber, Dreizehnlinden.) p2b_081.008 "welches tritt an Thränen Stelle, p2b_081.013 Und reifen wird im Blut die Welt," p2b_081.014 "denn Armut ist ja Sklaverei". p2b_081.017 p2b_081.019 § 53. Das Volkslied als Naturpoesie. p2b_081.022 p2b_081.024 p2b_081.026 p2b_081.037 p2b_081.001 „Nur das Einmaleins soll gelten, p2b_081.004 p2b_081.007Hebel, Walze, Rad und Hammer! p2b_081.005 Alles andre, öder Plunder, p2b_081.006 Flackre in der Feuerkammer.“ (Weber, Dreizehnlinden.) p2b_081.008 „welches tritt an Thränen Stelle, p2b_081.013 Und reifen wird im Blut die Welt,“ p2b_081.014 „denn Armut ist ja Sklaverei“. p2b_081.017 p2b_081.019 § 53. Das Volkslied als Naturpoesie. p2b_081.022 p2b_081.024 p2b_081.026 p2b_081.037 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <p><pb facs="#f0103" n="81"/><lb n="p2b_081.001"/> den Herbergshäusern und Pflegstätten des naiven Volksliedes ganz beseitigen <lb n="p2b_081.002"/> möchten.</p> <lb n="p2b_081.003"/> <p> <lg> <l>„Nur das Einmaleins soll gelten,</l> <lb n="p2b_081.004"/> <l>Hebel, Walze, Rad und Hammer!</l> <lb n="p2b_081.005"/> <l>Alles andre, öder Plunder,</l> <lb n="p2b_081.006"/> <l>Flackre in der Feuerkammer.“</l> </lg> <lb n="p2b_081.007"/> <hi rendition="#right">(Weber, Dreizehnlinden.)</hi> </p> <p><lb n="p2b_081.008"/> Der Materialismus hat sich breiter als je gemacht und möchte den Todestritt <lb n="p2b_081.009"/> aller Volkspoesie versetzen, die sich in gewissen Vereinen mit ihren materiellen <lb n="p2b_081.010"/> Tendenzen komisch genug ausnehmen müßte, in denen man nur von Rache <lb n="p2b_081.011"/> gegen die Besitzenden singt, vom Gefühl:</p> <lb n="p2b_081.012"/> <lg> <l>„welches tritt an Thränen Stelle,</l> <lb n="p2b_081.013"/> <l>Und reifen wird im Blut die Welt,“</l> </lg> <p><lb n="p2b_081.014"/> ja, wo die poetische Zeit des Handwerksburschen mit dem Pfennig in der Tasche <lb n="p2b_081.015"/> verlacht wird:</p> <lb n="p2b_081.016"/> <lg> <l>„denn Armut ist ja Sklaverei“.</l> </lg> <p><lb n="p2b_081.017"/> (Vgl. Die Arbeiterdichtung in Frankreich. Ausgewählte Lieder der Proletarier. <lb n="p2b_081.018"/> Übersetzt von Strodtmann.)</p> <p><lb n="p2b_081.019"/> Aber trotz alledem lebt das Volkslied, und wird fortleben als bleibendes <lb n="p2b_081.020"/> Zeichen deutschen poetischen Sinnes und poetisch=schöpferischer Volkskraft. ─</p> </div> <lb n="p2b_081.021"/> <div n="5"> <head> <hi rendition="#c">§ 53. Das Volkslied als Naturpoesie.</hi> </head> <p><lb n="p2b_081.022"/> 1. Das <hi rendition="#g">Volkslied</hi> ist Naturpoesie, das <hi rendition="#g">volkstümliche</hi> Lied <lb n="p2b_081.023"/> Kunstpoesie.</p> <p><lb n="p2b_081.024"/> 2. Der Volksdichter singt aus dem Volk heraus, der Kunstdichter <lb n="p2b_081.025"/> läßt sich zum Volk herab.</p> <p><lb n="p2b_081.026"/> 1. Das Volkslied ist ursprünglich naturwüchsige Poesie == Naturpoesie. <lb n="p2b_081.027"/> Diese bildet einen Gegensatz zu der ein bewußtes dichterisches Produzieren bezweckenden <lb n="p2b_081.028"/> und voraussetzenden Kunstpoesie. Die Dichtungen der letzteren werden <lb n="p2b_081.029"/> ─ sofern sie sich dem Bildungsgrade und den Bedürfnissen des Volks anbequemen <lb n="p2b_081.030"/> ─ zu volkstümlichen Liedern, die deshalb noch lange nicht Volkslieder <lb n="p2b_081.031"/> sind. Die Naturpoesie des Volksliedes setzt freilich auch eine Kunst (ein <lb n="p2b_081.032"/> Können) voraus, aber doch eine Kunst ohne planvolles, schulmäßiges Studium, <lb n="p2b_081.033"/> ohne ästhetische Schulregeln und Schultheorien, ohne Poetik, eine naive Kunst ─ <lb n="p2b_081.034"/> wie sie Grube in seinen ästhetischen Vorträgen nennt, ─ die auch da noch <lb n="p2b_081.035"/> naiv bleibt, wo sie sich an die Kunstpoesie anlehnt und deren Formen in <lb n="p2b_081.036"/> ihrer Weise benutzt.</p> <p><lb n="p2b_081.037"/> Diese Naturpoesie ist wie die Natur selbst: bald bizarr und grotesk erhaben, <lb n="p2b_081.038"/> bald anmutig lieblich, bald einförmig und gehaltlos. Jn ihr herrscht <lb n="p2b_081.039"/> scheinbar Regel- und Planlosigkeit und Willkür; alles knospt, grünt und rankt <lb n="p2b_081.040"/> in buntem Durch- und Nebeneinander. Sie ist von wunderbarer Schönheit, <lb n="p2b_081.041"/> die das Herz umfaßt, fesselt, anzieht. Der unverdorbene Geschmack findet sie </p> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [81/0103]
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den Herbergshäusern und Pflegstätten des naiven Volksliedes ganz beseitigen p2b_081.002
möchten.
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„Nur das Einmaleins soll gelten, p2b_081.004
Hebel, Walze, Rad und Hammer! p2b_081.005
Alles andre, öder Plunder, p2b_081.006
Flackre in der Feuerkammer.“
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(Weber, Dreizehnlinden.)
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Der Materialismus hat sich breiter als je gemacht und möchte den Todestritt p2b_081.009
aller Volkspoesie versetzen, die sich in gewissen Vereinen mit ihren materiellen p2b_081.010
Tendenzen komisch genug ausnehmen müßte, in denen man nur von Rache p2b_081.011
gegen die Besitzenden singt, vom Gefühl:
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„welches tritt an Thränen Stelle, p2b_081.013
Und reifen wird im Blut die Welt,“
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ja, wo die poetische Zeit des Handwerksburschen mit dem Pfennig in der Tasche p2b_081.015
verlacht wird:
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„denn Armut ist ja Sklaverei“.
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(Vgl. Die Arbeiterdichtung in Frankreich. Ausgewählte Lieder der Proletarier. p2b_081.018
Übersetzt von Strodtmann.)
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Aber trotz alledem lebt das Volkslied, und wird fortleben als bleibendes p2b_081.020
Zeichen deutschen poetischen Sinnes und poetisch=schöpferischer Volkskraft. ─
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§ 53. Das Volkslied als Naturpoesie. p2b_081.022
1. Das Volkslied ist Naturpoesie, das volkstümliche Lied p2b_081.023
Kunstpoesie.
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2. Der Volksdichter singt aus dem Volk heraus, der Kunstdichter p2b_081.025
läßt sich zum Volk herab.
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1. Das Volkslied ist ursprünglich naturwüchsige Poesie == Naturpoesie. p2b_081.027
Diese bildet einen Gegensatz zu der ein bewußtes dichterisches Produzieren bezweckenden p2b_081.028
und voraussetzenden Kunstpoesie. Die Dichtungen der letzteren werden p2b_081.029
─ sofern sie sich dem Bildungsgrade und den Bedürfnissen des Volks anbequemen p2b_081.030
─ zu volkstümlichen Liedern, die deshalb noch lange nicht Volkslieder p2b_081.031
sind. Die Naturpoesie des Volksliedes setzt freilich auch eine Kunst (ein p2b_081.032
Können) voraus, aber doch eine Kunst ohne planvolles, schulmäßiges Studium, p2b_081.033
ohne ästhetische Schulregeln und Schultheorien, ohne Poetik, eine naive Kunst ─ p2b_081.034
wie sie Grube in seinen ästhetischen Vorträgen nennt, ─ die auch da noch p2b_081.035
naiv bleibt, wo sie sich an die Kunstpoesie anlehnt und deren Formen in p2b_081.036
ihrer Weise benutzt.
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Diese Naturpoesie ist wie die Natur selbst: bald bizarr und grotesk erhaben, p2b_081.038
bald anmutig lieblich, bald einförmig und gehaltlos. Jn ihr herrscht p2b_081.039
scheinbar Regel- und Planlosigkeit und Willkür; alles knospt, grünt und rankt p2b_081.040
in buntem Durch- und Nebeneinander. Sie ist von wunderbarer Schönheit, p2b_081.041
die das Herz umfaßt, fesselt, anzieht. Der unverdorbene Geschmack findet sie
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