Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Zweiter Band. Stuttgart, 1883.p2b_223.001 p2b_223.022 p2b_223.026 Anfang des ersten Gesangs der Urania, von C. A. Tiedge. p2b_223.028 Mir auch war ein Leben aufgegangen, p2b_223.030 Welches reich bekränzte Tage bot; p2b_223.031 An der Hoffnung jugendlichen Wangen p2b_223.032 Blühte noch das erste, zarte Rot; p2b_223.033 Auf der Gegenwart umrauschten Wogen p2b_223.034 Brannt' ein Morgen, schön, wie Opferglut; p2b_223.035 Hohe Traumgestalten zogen p2b_223.036 Stolz, wie Schwäne, durch die rote Flut; p2b_223.037 Leichte Stunden rannen schnell und schneller p2b_223.038 An dem halberwachten Träumer hin, p2b_223.039 Und die Gegend lag schon hell und heller, p2b_223.040 Nur auch wüster, da vor meinem Sinn. p2b_223.041
Forschend blickt' ich in die weiten Räume; p2b_223.042 Aber bei dem zweifelhaften Licht p2b_223.043 Sah ich jetzt nur meine Träume! p2b_223.044 Wahrheit selbst, die Wahrheit sah ich nicht! p2b_223.001 p2b_223.022 p2b_223.026 Anfang des ersten Gesangs der Urania, von C. A. Tiedge. p2b_223.028 Mir auch war ein Leben aufgegangen, p2b_223.030 Welches reich bekränzte Tage bot; p2b_223.031 An der Hoffnung jugendlichen Wangen p2b_223.032 Blühte noch das erste, zarte Rot; p2b_223.033 Auf der Gegenwart umrauschten Wogen p2b_223.034 Brannt' ein Morgen, schön, wie Opferglut; p2b_223.035 Hohe Traumgestalten zogen p2b_223.036 Stolz, wie Schwäne, durch die rote Flut; p2b_223.037 Leichte Stunden rannen schnell und schneller p2b_223.038 An dem halberwachten Träumer hin, p2b_223.039 Und die Gegend lag schon hell und heller, p2b_223.040 Nur auch wüster, da vor meinem Sinn. p2b_223.041
Forschend blickt' ich in die weiten Räume; p2b_223.042 Aber bei dem zweifelhaften Licht p2b_223.043 Sah ich jetzt nur meine Träume! p2b_223.044 Wahrheit selbst, die Wahrheit sah ich nicht! <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <pb facs="#f0245" n="223"/> <p><lb n="p2b_223.001"/> Das große Lehrgedicht verhält sich zu den kurzen didaktischen Formen und <lb n="p2b_223.002"/> namentlich zu dem wirklichen Lehrgedicht (und auch zu den Sprüchen des Mittelalters), <lb n="p2b_223.003"/> wie sich etwa die Epopöe zum altepischen Lied verhält. Jm Gegensatz <lb n="p2b_223.004"/> zum Spruch oder zum kurzen didaktischen Gedicht, die sich beide mit <hi rendition="#g">einer</hi> <lb n="p2b_223.005"/> hervorleuchtenden Lehre begnügen, umschließt das große Lehrgedicht eine Summe <lb n="p2b_223.006"/> von Lehren und lehrhaften Einzelheiten. Es liebt Episoden gleich der Epopöe. <lb n="p2b_223.007"/> Da wir alle versifizierten Anweisungen zu Beschäftigungen wie Fischfang und <lb n="p2b_223.008"/> Jagd (ich erwähne beispielshalber neben der auf S. 21 d. Bds. zitierten <lb n="p2b_223.009"/> Aßmannschen Weltgeschichte noch <hi rendition="#g">Tscharners</hi> Regeln von der Wässerung der <lb n="p2b_223.010"/> Äcker, <hi rendition="#g">Trillers</hi> Pocken-Jnokulation, <hi rendition="#g">Schröers</hi> Drei Bücher von der Vormünder <lb n="p2b_223.011"/> und Pflegeväter gebührender Administration &c.), sofern sie nicht das <lb n="p2b_223.012"/> Gefühl und die Einbildungskraft anzuregen vermögen, ─ als gereimte Prosa <lb n="p2b_223.013"/> und als Pseudolehrgedichte aus dem Bereich der Poesie überhaupt ausscheiden, <lb n="p2b_223.014"/> so kann das große Lehrgedicht nur jene umfangreiche, systematisch belehrende <lb n="p2b_223.015"/> Dichtung sein, die ebenso dem Gemüte wie der Einbildungskraft Rechnung <lb n="p2b_223.016"/> trägt. Ein Lehrgedicht, welches nur Wissen vorträgt, muß schon deshalb um <lb n="p2b_223.017"/> seine Existenz zittern, weil die Wissenschaft am folgenden Tage bereits zu andern <lb n="p2b_223.018"/> Resultaten gelangt sein kann und der Jnhalt des Lehrgedichts (somit also auch der <lb n="p2b_223.019"/> Zweck desselben) in sich zusammenbricht. Jch erinnere an „Die 5 Sinne“ von <lb n="p2b_223.020"/> Brockes, sowie an die S. 21 d. Bds. erwähnten „Gesundbrunnen“ Neubecks, deren <lb n="p2b_223.021"/> Didaxis durch die neueren Resultate der Naturwissenschaft längst überholt ist.</p> <p><lb n="p2b_223.022"/> Das große (philosophische oder höhere) Lehrgedicht würde von kurzer <lb n="p2b_223.023"/> Dauer sein, wenn es nicht dem Gefühl genügen würde, da seine spekulativen <lb n="p2b_223.024"/> Wahrheiten ebensowenig unbestritten bei allen Menschen feststehen, als dies bei <lb n="p2b_223.025"/> den philosophischen Systemen selbst der Fall ist.</p> <p> <lb n="p2b_223.026"/> <hi rendition="#g">Beispiele des großen Lehrgedichts.</hi> </p> <lb n="p2b_223.027"/> <p> <hi rendition="#c"><hi rendition="#g">Anfang des ersten Gesangs der Urania, von</hi> C. A. <hi rendition="#g">Tiedge. <lb n="p2b_223.028"/> Klagen des Zweiflers.</hi></hi> </p> <lb n="p2b_223.029"/> <lg> <l> Mir auch war ein Leben aufgegangen,</l> <lb n="p2b_223.030"/> <l>Welches reich bekränzte Tage bot;</l> <lb n="p2b_223.031"/> <l>An der Hoffnung jugendlichen Wangen</l> <lb n="p2b_223.032"/> <l>Blühte noch das erste, zarte Rot;</l> <lb n="p2b_223.033"/> <l>Auf der Gegenwart umrauschten Wogen</l> <lb n="p2b_223.034"/> <l>Brannt' ein Morgen, schön, wie Opferglut;</l> <lb n="p2b_223.035"/> <l>Hohe Traumgestalten zogen</l> <lb n="p2b_223.036"/> <l>Stolz, wie Schwäne, durch die rote Flut;</l> <lb n="p2b_223.037"/> <l>Leichte Stunden rannen schnell und schneller</l> <lb n="p2b_223.038"/> <l>An dem halberwachten Träumer hin,</l> <lb n="p2b_223.039"/> <l>Und die Gegend lag schon hell und heller,</l> <lb n="p2b_223.040"/> <l>Nur auch wüster, da vor meinem Sinn. </l> </lg> <lg> <lb n="p2b_223.041"/> <l> Forschend blickt' ich in die weiten Räume;</l> <lb n="p2b_223.042"/> <l>Aber bei dem zweifelhaften Licht</l> <lb n="p2b_223.043"/> <l>Sah ich jetzt nur meine Träume!</l> <lb n="p2b_223.044"/> <l>Wahrheit selbst, die Wahrheit sah ich nicht!</l> </lg> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [223/0245]
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Das große Lehrgedicht verhält sich zu den kurzen didaktischen Formen und p2b_223.002
namentlich zu dem wirklichen Lehrgedicht (und auch zu den Sprüchen des Mittelalters), p2b_223.003
wie sich etwa die Epopöe zum altepischen Lied verhält. Jm Gegensatz p2b_223.004
zum Spruch oder zum kurzen didaktischen Gedicht, die sich beide mit einer p2b_223.005
hervorleuchtenden Lehre begnügen, umschließt das große Lehrgedicht eine Summe p2b_223.006
von Lehren und lehrhaften Einzelheiten. Es liebt Episoden gleich der Epopöe. p2b_223.007
Da wir alle versifizierten Anweisungen zu Beschäftigungen wie Fischfang und p2b_223.008
Jagd (ich erwähne beispielshalber neben der auf S. 21 d. Bds. zitierten p2b_223.009
Aßmannschen Weltgeschichte noch Tscharners Regeln von der Wässerung der p2b_223.010
Äcker, Trillers Pocken-Jnokulation, Schröers Drei Bücher von der Vormünder p2b_223.011
und Pflegeväter gebührender Administration &c.), sofern sie nicht das p2b_223.012
Gefühl und die Einbildungskraft anzuregen vermögen, ─ als gereimte Prosa p2b_223.013
und als Pseudolehrgedichte aus dem Bereich der Poesie überhaupt ausscheiden, p2b_223.014
so kann das große Lehrgedicht nur jene umfangreiche, systematisch belehrende p2b_223.015
Dichtung sein, die ebenso dem Gemüte wie der Einbildungskraft Rechnung p2b_223.016
trägt. Ein Lehrgedicht, welches nur Wissen vorträgt, muß schon deshalb um p2b_223.017
seine Existenz zittern, weil die Wissenschaft am folgenden Tage bereits zu andern p2b_223.018
Resultaten gelangt sein kann und der Jnhalt des Lehrgedichts (somit also auch der p2b_223.019
Zweck desselben) in sich zusammenbricht. Jch erinnere an „Die 5 Sinne“ von p2b_223.020
Brockes, sowie an die S. 21 d. Bds. erwähnten „Gesundbrunnen“ Neubecks, deren p2b_223.021
Didaxis durch die neueren Resultate der Naturwissenschaft längst überholt ist.
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Das große (philosophische oder höhere) Lehrgedicht würde von kurzer p2b_223.023
Dauer sein, wenn es nicht dem Gefühl genügen würde, da seine spekulativen p2b_223.024
Wahrheiten ebensowenig unbestritten bei allen Menschen feststehen, als dies bei p2b_223.025
den philosophischen Systemen selbst der Fall ist.
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Beispiele des großen Lehrgedichts.
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Anfang des ersten Gesangs der Urania, von C. A. Tiedge. p2b_223.028
Klagen des Zweiflers.
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Mir auch war ein Leben aufgegangen, p2b_223.030
Welches reich bekränzte Tage bot; p2b_223.031
An der Hoffnung jugendlichen Wangen p2b_223.032
Blühte noch das erste, zarte Rot; p2b_223.033
Auf der Gegenwart umrauschten Wogen p2b_223.034
Brannt' ein Morgen, schön, wie Opferglut; p2b_223.035
Hohe Traumgestalten zogen p2b_223.036
Stolz, wie Schwäne, durch die rote Flut; p2b_223.037
Leichte Stunden rannen schnell und schneller p2b_223.038
An dem halberwachten Träumer hin, p2b_223.039
Und die Gegend lag schon hell und heller, p2b_223.040
Nur auch wüster, da vor meinem Sinn.
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Forschend blickt' ich in die weiten Räume; p2b_223.042
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Sah ich jetzt nur meine Träume! p2b_223.044
Wahrheit selbst, die Wahrheit sah ich nicht!
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