Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Zweiter Band. Stuttgart, 1883.p2b_428.001 p2b_428.003 "Es giebt keinen Zufall p2b_428.011 Und was euch blindes Ohngefähr erscheint, p2b_428.012 Gerade das steigt aus den tiefsten Quellen." p2b_428.013 "Das große gigantische Schicksal, p2b_428.016 p2b_428.017Welches den Menschen erhebt, wenn es den Menschen zermalmt." (Schiller.) p2b_428.018 p2b_428.028 § 157. Die poetische Gerechtigkeit. p2b_428.033 p2b_428.036 p2b_428.001 p2b_428.003 „Es giebt keinen Zufall p2b_428.011 Und was euch blindes Ohngefähr erscheint, p2b_428.012 Gerade das steigt aus den tiefsten Quellen.“ p2b_428.013 „Das große gigantische Schicksal, p2b_428.016 p2b_428.017Welches den Menschen erhebt, wenn es den Menschen zermalmt.“ (Schiller.) p2b_428.018 p2b_428.028 § 157. Die poetische Gerechtigkeit. p2b_428.033 p2b_428.036 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <pb facs="#f0450" n="428"/> <p><lb n="p2b_428.001"/> Es ist die echteste Tragik, wo selbst Sühne ohne neue Pflichtverletzung <lb n="p2b_428.002"/> nicht mehr möglich ist. (Vgl. Pessimistenbrevier S. 299.)</p> <p><lb n="p2b_428.003"/> 5. Beim <hi rendition="#g">Tragischen des einfachen Konflikts</hi> geht der Charakter <lb n="p2b_428.004"/> durch seine Schuld unter, die tragisch und ethisch sein kann. (Beispiel <lb n="p2b_428.005"/> <hi rendition="#aq">I</hi> 102.) Es beruhigt und versöhnt hierbei die Wahrnehmung einer sittlichen <lb n="p2b_428.006"/> Weltordnung neben der Mangelhaftigkeit menschlichen Daseins. Beim <lb n="p2b_428.007"/> Tragischen der <hi rendition="#g">sittlichen Kollision</hi> sieht man durch den Untergang des Helden <lb n="p2b_428.008"/> die unerbittlichen Pflichten und Forderungen einer moralischen Weltordnung <lb n="p2b_428.009"/> erfüllt, ersieht man die Wahrheit des Schillerschen Ausspruchs:</p> <lb n="p2b_428.010"/> <lg> <l> „Es giebt keinen Zufall</l> <lb n="p2b_428.011"/> <l>Und was euch blindes Ohngefähr erscheint,</l> <lb n="p2b_428.012"/> <l>Gerade das steigt aus den tiefsten Quellen.“</l> </lg> <p><lb n="p2b_428.013"/> Eine gewisse Genugthuung (tragische Gerechtigkeit <hi rendition="#aq">I</hi>. 101. 3; vgl. auch <lb n="p2b_428.014"/> den folgenden Paragraphen 157) gewährt der Hinblick auf <lb n="p2b_428.015"/> <lg><l> „Das große gigantische Schicksal,</l><lb n="p2b_428.016"/><l>Welches den Menschen erhebt, wenn es den Menschen zermalmt.“</l></lg> <lb n="p2b_428.017"/> <hi rendition="#right">(Schiller.)</hi></p> <p><lb n="p2b_428.018"/> Es wird die Entladung von den trüben und beengenden Stimmungen <lb n="p2b_428.019"/> des Tages herbeigeführt, welche nur durch den Jammer und das Fürchterliche <lb n="p2b_428.020"/> in die Welt kommen. (Freytag, Technik des Drama, sowie Masings, die tragische <lb n="p2b_428.021"/> Schuld.) Wenn der Held die ihm von der Vorsehung gesetzten Schranken <lb n="p2b_428.022"/> überspringt, wenn er weiter geht, als es nach menschlicher Berechnung klug <lb n="p2b_428.023"/> oder naturgemäß erscheinen mag, so wachsen ihm die Folgen seiner That (Schuld) <lb n="p2b_428.024"/> über den Kopf und er wird durch innere Notwendigkeit zu einem Ausgang <lb n="p2b_428.025"/> fortgerissen, den er nicht ahnte: er geht unter. Daher ist das Grundgefühl <lb n="p2b_428.026"/> des Tragischen die Wehmut. Da die Geschichte reich an solchen Beispielen ist, <lb n="p2b_428.027"/> so giebt es viele <hi rendition="#g">historische Tragödien.</hi></p> <p><lb n="p2b_428.028"/> 5. Wallenstein geht unter durch unbegrenzte Herrschsucht, die allerdings <lb n="p2b_428.029"/> in seinem Herrscherberuf Entschuldigung findet; Maria Stuart durch Unbeugsamkeit <lb n="p2b_428.030"/> des königlichen Sinnes, der sich nicht durch unwürdige Behandlung <lb n="p2b_428.031"/> erniedrigen läßt.</p> </div> <lb n="p2b_428.032"/> <div n="4"> <head> <hi rendition="#c">§ 157. Die poetische Gerechtigkeit.</hi> </head> <p><lb n="p2b_428.033"/> Der Untergang des Helden muß der Beweis einer Gerechtigkeit <lb n="p2b_428.034"/> sein, welche die Schuld sühnt. Dem Fehltritte des Helden muß die <lb n="p2b_428.035"/> Nemesis, das Eingreifen des Schicksals, auf dem Fuß folgen.</p> <p><lb n="p2b_428.036"/> Jn der Antigone nötigt z. B. <hi rendition="#g">die List</hi> der mit Strafe bedrohten Wächter <lb n="p2b_428.037"/> die Antigone zur wiederholten Übertretung der Staatsgesetze, wodurch ihre <lb n="p2b_428.038"/> Entdeckung erfolgt. Jn <hi rendition="#g">Maria Stuart</hi> spricht der unzeitige, für die Heldin <lb n="p2b_428.039"/> begangene Mordversuch gegen sie u. s. w. Die in der Tragödie eintretende <lb n="p2b_428.040"/> Sühne heißt poetische Gerechtigkeit. Jene Sühne des frommen Glaubens, die </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [428/0450]
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Es ist die echteste Tragik, wo selbst Sühne ohne neue Pflichtverletzung p2b_428.002
nicht mehr möglich ist. (Vgl. Pessimistenbrevier S. 299.)
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5. Beim Tragischen des einfachen Konflikts geht der Charakter p2b_428.004
durch seine Schuld unter, die tragisch und ethisch sein kann. (Beispiel p2b_428.005
I 102.) Es beruhigt und versöhnt hierbei die Wahrnehmung einer sittlichen p2b_428.006
Weltordnung neben der Mangelhaftigkeit menschlichen Daseins. Beim p2b_428.007
Tragischen der sittlichen Kollision sieht man durch den Untergang des Helden p2b_428.008
die unerbittlichen Pflichten und Forderungen einer moralischen Weltordnung p2b_428.009
erfüllt, ersieht man die Wahrheit des Schillerschen Ausspruchs:
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Und was euch blindes Ohngefähr erscheint, p2b_428.012
Gerade das steigt aus den tiefsten Quellen.“
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Eine gewisse Genugthuung (tragische Gerechtigkeit I. 101. 3; vgl. auch p2b_428.014
den folgenden Paragraphen 157) gewährt der Hinblick auf p2b_428.015
„Das große gigantische Schicksal, p2b_428.016
Welches den Menschen erhebt, wenn es den Menschen zermalmt.“
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(Schiller.)
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Es wird die Entladung von den trüben und beengenden Stimmungen p2b_428.019
des Tages herbeigeführt, welche nur durch den Jammer und das Fürchterliche p2b_428.020
in die Welt kommen. (Freytag, Technik des Drama, sowie Masings, die tragische p2b_428.021
Schuld.) Wenn der Held die ihm von der Vorsehung gesetzten Schranken p2b_428.022
überspringt, wenn er weiter geht, als es nach menschlicher Berechnung klug p2b_428.023
oder naturgemäß erscheinen mag, so wachsen ihm die Folgen seiner That (Schuld) p2b_428.024
über den Kopf und er wird durch innere Notwendigkeit zu einem Ausgang p2b_428.025
fortgerissen, den er nicht ahnte: er geht unter. Daher ist das Grundgefühl p2b_428.026
des Tragischen die Wehmut. Da die Geschichte reich an solchen Beispielen ist, p2b_428.027
so giebt es viele historische Tragödien.
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5. Wallenstein geht unter durch unbegrenzte Herrschsucht, die allerdings p2b_428.029
in seinem Herrscherberuf Entschuldigung findet; Maria Stuart durch Unbeugsamkeit p2b_428.030
des königlichen Sinnes, der sich nicht durch unwürdige Behandlung p2b_428.031
erniedrigen läßt.
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§ 157. Die poetische Gerechtigkeit. p2b_428.033
Der Untergang des Helden muß der Beweis einer Gerechtigkeit p2b_428.034
sein, welche die Schuld sühnt. Dem Fehltritte des Helden muß die p2b_428.035
Nemesis, das Eingreifen des Schicksals, auf dem Fuß folgen.
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Jn der Antigone nötigt z. B. die List der mit Strafe bedrohten Wächter p2b_428.037
die Antigone zur wiederholten Übertretung der Staatsgesetze, wodurch ihre p2b_428.038
Entdeckung erfolgt. Jn Maria Stuart spricht der unzeitige, für die Heldin p2b_428.039
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