p2b_065.001 4. Welcher geschichtliche oder auch völkerpsychologische Grund für p2b_065.002 die Beziehung und Herrschaft der einen oder anderen Dichtungsgattung p2b_065.003 bis in die Gegenwart war maßgebend?
p2b_065.004 1. Wollte man anknüpfend an den Schluß des § 11 Band I dieser p2b_065.005 Poetik untersuchen, wie sich im Volksglauben das historische Bewußtsein von p2b_065.006 der Epik als dem Anfänglichen aller Poesie ausspreche, so wäre zu erwähnen, p2b_065.007 daß z. B. der Homersche Hymnus an Hermes die Mnemosyne (also das p2b_065.008 Gedächtnis) besang, welche ihm die Gabe des Gesangs verlieh. Die Erinnerung p2b_065.009 war die Quelle der epischen Poesie. (Nicht umsonst ist das Gedächtnis p2b_065.010 der Musen Mutter genannt worden. Die Muse (montia == mousa) hat vom p2b_065.011 Erinnern monere den Namen. Deshalb ruft der Sänger die Musen besonders p2b_065.012 da an, wo sein Gedächtnis auf die Probe gestellt wird &c. (Vgl. hierzu Bd. I. p2b_065.013 S. 23 und 25.) Die mythische Tradition ist hier ein schwerwiegendes, mindestens p2b_065.014 nicht bedeutungsloses historisches Zeugnis. Die epischen Gesänge der Gothen, p2b_065.015 Longobarden (vgl. Paulus Diaconus 1. 27) fußten ebenso auf der Erinnerung, p2b_065.016 als die ältesten Gesänge der Jnder, Perser, Araber und Hebräer. Homer p2b_065.017 fand bei seinem Volke nur ungeschriebene epische Gesänge vor. Die dort auftretenden p2b_065.018 Sänger (aoidoi), Phemios auf Jthaka, Demodokos bei den Phäaken p2b_065.019 &c. sangen ihre epischen Stoffe aus der Erinnerung. Die epische Poesie p2b_065.020 ließ am besten das Schöne in den Formen der Wirklichkeit anschauen und gab p2b_065.021 der Phantasie wie dem Gedächtnisse gleichmäßige Gelegenheit zur Entfaltung.
p2b_065.022 2. Jn § 18 dieses Bandes haben wir dargethan, daß mit dem Aufblühen p2b_065.023 der Lyrik das Abblühen der Epik Hand in Hand ging. Nur allmählich p2b_065.024 kam das lyrische Moment zum Durchbruch. Man vgl. die ersten Minnesinger, p2b_065.025 deren Lieder meist noch episch=lyrisch sind.
p2b_065.026 3. Da die Lyrik aus der Epik erwuchs, so mußte sie eigentlich so verschieden p2b_065.027 sein, als die Mundarten, und man wäre fast versucht, an die ionische, p2b_065.028 äolische und dorische Lyrik zu denken.
p2b_065.029 Bei den Griechen folgte der Epik nachweislich die Elegie der Jonier, p2b_065.030 dann kamen die Epoden und Jamben des Archilochos von Paros und die p2b_065.031 freien Maße und Strophen der Lesbier (Äoler: Alcäus, Sappho). Die Übergänge p2b_065.032 fanden bei den verschiedenen Stämmen auf verschiedene Weise statt. p2b_065.033 Bei den Deutschen folgte der Epik die lyrisch=epische Behandlung Dietmars von p2b_065.034 Aist, die episch=lyrische Reinmars des Alten, die rein lyrische des Hauptvertreters p2b_065.035 des Minnesangs Walthers von der Vogelweide. Erst die mittelalterliche p2b_065.036 Lyrik bildete das Gesetz der Dreiteiligkeit in der Lyrik aus: das Lied, welches p2b_065.037 die einmal erlangte Herrschaft behielt.
p2b_065.038 4. Unsere deutsche Lyrik löste sich wie die griechische vom Epischen ab; p2b_065.039 sie wurde gesungen, wie diese. Aber sie wurde nicht eigentümlich, d. h. p2b_065.040 aus dem Volksgeist und mit seinem Material zur Vollendung gebracht, vielmehr p2b_065.041 durch fremde Vorbilder beeinflußt und genährt. Es fehlte unserer deutschen p2b_065.042 Lyrik (wie besonders Wackernagel in Gesch. d. deutsch. Litteratur nachweist) p2b_065.043 die selbständige Entwickelung. Man ahmte Franzosen und Provencalen nach, p2b_065.044 und unter der Geringschätzung gegen das Heimatliche mußte auch das verkümmern,
p2b_065.001 4. Welcher geschichtliche oder auch völkerpsychologische Grund für p2b_065.002 die Beziehung und Herrschaft der einen oder anderen Dichtungsgattung p2b_065.003 bis in die Gegenwart war maßgebend?
p2b_065.004 1. Wollte man anknüpfend an den Schluß des § 11 Band I dieser p2b_065.005 Poetik untersuchen, wie sich im Volksglauben das historische Bewußtsein von p2b_065.006 der Epik als dem Anfänglichen aller Poesie ausspreche, so wäre zu erwähnen, p2b_065.007 daß z. B. der Homersche Hymnus an Hermes die Mnemosyne (also das p2b_065.008 Gedächtnis) besang, welche ihm die Gabe des Gesangs verlieh. Die Erinnerung p2b_065.009 war die Quelle der epischen Poesie. (Nicht umsonst ist das Gedächtnis p2b_065.010 der Musen Mutter genannt worden. Die Muse (μόντια == μοῦσα) hat vom p2b_065.011 Erinnern monere den Namen. Deshalb ruft der Sänger die Musen besonders p2b_065.012 da an, wo sein Gedächtnis auf die Probe gestellt wird &c. (Vgl. hierzu Bd. I. p2b_065.013 S. 23 und 25.) Die mythische Tradition ist hier ein schwerwiegendes, mindestens p2b_065.014 nicht bedeutungsloses historisches Zeugnis. Die epischen Gesänge der Gothen, p2b_065.015 Longobarden (vgl. Paulus Diaconus 1. 27) fußten ebenso auf der Erinnerung, p2b_065.016 als die ältesten Gesänge der Jnder, Perser, Araber und Hebräer. Homer p2b_065.017 fand bei seinem Volke nur ungeschriebene epische Gesänge vor. Die dort auftretenden p2b_065.018 Sänger (ἀοιδοί), Phemios auf Jthaka, Demodokos bei den Phäaken p2b_065.019 &c. sangen ihre epischen Stoffe aus der Erinnerung. Die epische Poesie p2b_065.020 ließ am besten das Schöne in den Formen der Wirklichkeit anschauen und gab p2b_065.021 der Phantasie wie dem Gedächtnisse gleichmäßige Gelegenheit zur Entfaltung.
p2b_065.022 2. Jn § 18 dieses Bandes haben wir dargethan, daß mit dem Aufblühen p2b_065.023 der Lyrik das Abblühen der Epik Hand in Hand ging. Nur allmählich p2b_065.024 kam das lyrische Moment zum Durchbruch. Man vgl. die ersten Minnesinger, p2b_065.025 deren Lieder meist noch episch=lyrisch sind.
p2b_065.026 3. Da die Lyrik aus der Epik erwuchs, so mußte sie eigentlich so verschieden p2b_065.027 sein, als die Mundarten, und man wäre fast versucht, an die ionische, p2b_065.028 äolische und dorische Lyrik zu denken.
p2b_065.029 Bei den Griechen folgte der Epik nachweislich die Elegie der Jonier, p2b_065.030 dann kamen die Epoden und Jamben des Archilochos von Paros und die p2b_065.031 freien Maße und Strophen der Lesbier (Äoler: Alcäus, Sappho). Die Übergänge p2b_065.032 fanden bei den verschiedenen Stämmen auf verschiedene Weise statt. p2b_065.033 Bei den Deutschen folgte der Epik die lyrisch=epische Behandlung Dietmars von p2b_065.034 Aist, die episch=lyrische Reinmars des Alten, die rein lyrische des Hauptvertreters p2b_065.035 des Minnesangs Walthers von der Vogelweide. Erst die mittelalterliche p2b_065.036 Lyrik bildete das Gesetz der Dreiteiligkeit in der Lyrik aus: das Lied, welches p2b_065.037 die einmal erlangte Herrschaft behielt.
p2b_065.038 4. Unsere deutsche Lyrik löste sich wie die griechische vom Epischen ab; p2b_065.039 sie wurde gesungen, wie diese. Aber sie wurde nicht eigentümlich, d. h. p2b_065.040 aus dem Volksgeist und mit seinem Material zur Vollendung gebracht, vielmehr p2b_065.041 durch fremde Vorbilder beeinflußt und genährt. Es fehlte unserer deutschen p2b_065.042 Lyrik (wie besonders Wackernagel in Gesch. d. deutsch. Litteratur nachweist) p2b_065.043 die selbständige Entwickelung. Man ahmte Franzosen und Provençalen nach, p2b_065.044 und unter der Geringschätzung gegen das Heimatliche mußte auch das verkümmern,
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da an, wo sein Gedächtnis auf die Probe gestellt wird &c. (Vgl. hierzu Bd. I. p2b_065.013
S. 23 und 25.) Die mythische Tradition ist hier ein schwerwiegendes, mindestens p2b_065.014
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fand bei seinem Volke nur ungeschriebene epische Gesänge vor. Die dort auftretenden p2b_065.018
Sänger (ἀοιδοί), Phemios auf Jthaka, Demodokos bei den Phäaken p2b_065.019
&c. sangen ihre epischen Stoffe aus der Erinnerung. Die epische Poesie p2b_065.020
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2. Jn § 18 dieses Bandes haben wir dargethan, daß mit dem Aufblühen p2b_065.023
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3. Da die Lyrik aus der Epik erwuchs, so mußte sie eigentlich so verschieden p2b_065.027
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äolische und dorische Lyrik zu denken.
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Bei den Griechen folgte der Epik nachweislich die Elegie der Jonier, p2b_065.030
dann kamen die Epoden und Jamben des Archilochos von Paros und die p2b_065.031
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Lyrik bildete das Gesetz der Dreiteiligkeit in der Lyrik aus: das Lied, welches p2b_065.037
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4. Unsere deutsche Lyrik löste sich wie die griechische vom Epischen ab; p2b_065.039
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aus dem Volksgeist und mit seinem Material zur Vollendung gebracht, vielmehr p2b_065.041
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Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Zweiter Band. Stuttgart, 1883, S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik02_1883/87>, abgerufen am 22.11.2024.
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