Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Dritter Band. Stuttgart, 1884.p3b_265.001 p3b_265.002 p3b_265.005 p3b_265.006 p3b_265.008 p3b_265.010 p3b_265.012 p3b_265.016 p3b_265.027 p3b_265.035 § 93. Praktische Nachweise der Selbstkritik und der p3b_265.036 dichterischen Feile. p3b_265.037 p3b_265.001 p3b_265.002 p3b_265.005 p3b_265.006 p3b_265.008 p3b_265.010 p3b_265.012 p3b_265.016 p3b_265.027 p3b_265.035 § 93. Praktische Nachweise der Selbstkritik und der p3b_265.036 dichterischen Feile. p3b_265.037 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0291" n="265"/> <p><lb n="p3b_265.001"/> 2. Man lasse dieses flüchtig hingeworfene Gedicht einige Zeit ruhen.</p> <p><lb n="p3b_265.002"/> 3. Sodann prüfe man es zuerst auf den Bau: ob es architektonisch <lb n="p3b_265.003"/> richtig sei, ob es nicht an Mißverhältnis seiner Teile leide, hier zu lang, dort <lb n="p3b_265.004"/> zu kurz sei &c.</p> <p><lb n="p3b_265.005"/> 4. Man schneide weder zu viel weg, noch setze man zu viel an.</p> <p><lb n="p3b_265.006"/> 5. Man sehe vor allem darauf, daß der Gedanke klar heraustrete, <lb n="p3b_265.007"/> und daß die Empfindung sich steigere.</p> <p><lb n="p3b_265.008"/> 6. Man streiche schonungslos alle falschen Bilder oder die allzureiche Fülle <lb n="p3b_265.009"/> der guten.</p> <p><lb n="p3b_265.010"/> 7. Dann gehe man an die Verbesserung der Worte, der Verse, der <lb n="p3b_265.011"/> Reime, der Strophen &c. (Vgl. Ziffer 1 des folgenden §.)</p> <p><lb n="p3b_265.012"/> 8. Man vergesse nicht, daß die kleinste Änderung nach vorne und nach <lb n="p3b_265.013"/> rückwärts wirkt, nicht bloß auf die geänderte Stelle. Man halte sich also <lb n="p3b_265.014"/> immer den Bezug des Ganzen auf die Teile und der Teile auf das Ganze <lb n="p3b_265.015"/> gegenwärtig.</p> <p><lb n="p3b_265.016"/><hi rendition="#aq">Exempla docent</hi>! Der bekannte österreichische Dichter <hi rendition="#g">Faust Pachler</hi> <lb n="p3b_265.017"/> versichert uns, daß er bei seiner Ausgabe von Halms Gedichten im Nachlaß <lb n="p3b_265.018"/> vier Bearbeitungen eines und desselben Gedichts vorgefunden habe, darunter <lb n="p3b_265.019"/> eine, die offenbar Halms Liebling gewesen sei, in einem neuen Versmaß. <lb n="p3b_265.020"/> Pachler gab sich Mühe, das Gedicht zu retten. Es war sehr lang und <lb n="p3b_265.021"/> unklar. Pachler schnitt vorne und hinten ab und ließ in der Mitte weg. <lb n="p3b_265.022"/> Sein Mitherausgeber war einverstanden; nur Pachler selbst war mit seiner <lb n="p3b_265.023"/> Thätigkeit noch unzufrieden. Er nahm daher einige weggelassene Strophen <lb n="p3b_265.024"/> wieder auf. Dann stellte er in dieser 2. Textgestaltung eine andere Strophenfolge <lb n="p3b_265.025"/> her und jetzt war das Gedicht plötzlich gut, ohne daß er ein Wort zu <lb n="p3b_265.026"/> ändern brauchte.</p> <p><lb n="p3b_265.027"/> Auch bei seiner schönen poetischen Erzählung Anahid, die so eben im <lb n="p3b_265.028"/> Deutschen Dichterbuch aus Österreich (herausgegeben von Franzos 1883) erschien, <lb n="p3b_265.029"/> hat Pachler nach dem uns vorgezeigten Material rücksichtslos gearbeitet, <lb n="p3b_265.030"/> bis sie ihre ergreifende Gestalt erhielt. Er schuf mehrere Strophen um, fügte <lb n="p3b_265.031"/> eine ganz neue Strophe ein, stimmte das Ganze im Ausdruck poetischer, änderte <lb n="p3b_265.032"/> den Titel und neuerdings sogar den Namen der Heldin. Lehrreich für jeden <lb n="p3b_265.033"/> Überarbeiter ist es hierbei, daß der sorgsame Dichter doch noch (und zwar gleich <lb n="p3b_265.034"/> in der 1. Strophe) einen zu langen Vers übersah.</p> </div> <div n="2"> <lb n="p3b_265.035"/> <head> <hi rendition="#c">§ 93. Praktische Nachweise der Selbstkritik und der <lb n="p3b_265.036"/> dichterischen Feile.</hi> </head> <p><lb n="p3b_265.037"/> 1. Jm Folgenden suchen wir den Nachweis zu liefern, <hi rendition="#g">wie</hi> die namhaftesten <lb n="p3b_265.038"/> Dichter die Feile anwandten, wie sie ─ nachdem der Gedanke in <lb n="p3b_265.039"/> die rhythmische Form gegossen war ─ mit der Selbstkritik begannen, um nunmehr <lb n="p3b_265.040"/> entweder einzelne Bilder zu ergänzen, zu klären, durch malende Worte <lb n="p3b_265.041"/> zu verschönen, oder den Versbau, die Strophenform, den Reim zu verändern, <lb n="p3b_265.042"/> und ihr Gedicht auf eine möglichst hohe Stufe der Vollendung zu heben.</p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [265/0291]
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2. Man lasse dieses flüchtig hingeworfene Gedicht einige Zeit ruhen.
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3. Sodann prüfe man es zuerst auf den Bau: ob es architektonisch p3b_265.003
richtig sei, ob es nicht an Mißverhältnis seiner Teile leide, hier zu lang, dort p3b_265.004
zu kurz sei &c.
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4. Man schneide weder zu viel weg, noch setze man zu viel an.
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5. Man sehe vor allem darauf, daß der Gedanke klar heraustrete, p3b_265.007
und daß die Empfindung sich steigere.
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6. Man streiche schonungslos alle falschen Bilder oder die allzureiche Fülle p3b_265.009
der guten.
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7. Dann gehe man an die Verbesserung der Worte, der Verse, der p3b_265.011
Reime, der Strophen &c. (Vgl. Ziffer 1 des folgenden §.)
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8. Man vergesse nicht, daß die kleinste Änderung nach vorne und nach p3b_265.013
rückwärts wirkt, nicht bloß auf die geänderte Stelle. Man halte sich also p3b_265.014
immer den Bezug des Ganzen auf die Teile und der Teile auf das Ganze p3b_265.015
gegenwärtig.
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Exempla docent! Der bekannte österreichische Dichter Faust Pachler p3b_265.017
versichert uns, daß er bei seiner Ausgabe von Halms Gedichten im Nachlaß p3b_265.018
vier Bearbeitungen eines und desselben Gedichts vorgefunden habe, darunter p3b_265.019
eine, die offenbar Halms Liebling gewesen sei, in einem neuen Versmaß. p3b_265.020
Pachler gab sich Mühe, das Gedicht zu retten. Es war sehr lang und p3b_265.021
unklar. Pachler schnitt vorne und hinten ab und ließ in der Mitte weg. p3b_265.022
Sein Mitherausgeber war einverstanden; nur Pachler selbst war mit seiner p3b_265.023
Thätigkeit noch unzufrieden. Er nahm daher einige weggelassene Strophen p3b_265.024
wieder auf. Dann stellte er in dieser 2. Textgestaltung eine andere Strophenfolge p3b_265.025
her und jetzt war das Gedicht plötzlich gut, ohne daß er ein Wort zu p3b_265.026
ändern brauchte.
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Auch bei seiner schönen poetischen Erzählung Anahid, die so eben im p3b_265.028
Deutschen Dichterbuch aus Österreich (herausgegeben von Franzos 1883) erschien, p3b_265.029
hat Pachler nach dem uns vorgezeigten Material rücksichtslos gearbeitet, p3b_265.030
bis sie ihre ergreifende Gestalt erhielt. Er schuf mehrere Strophen um, fügte p3b_265.031
eine ganz neue Strophe ein, stimmte das Ganze im Ausdruck poetischer, änderte p3b_265.032
den Titel und neuerdings sogar den Namen der Heldin. Lehrreich für jeden p3b_265.033
Überarbeiter ist es hierbei, daß der sorgsame Dichter doch noch (und zwar gleich p3b_265.034
in der 1. Strophe) einen zu langen Vers übersah.
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dichterischen Feile. p3b_265.037
1. Jm Folgenden suchen wir den Nachweis zu liefern, wie die namhaftesten p3b_265.038
Dichter die Feile anwandten, wie sie ─ nachdem der Gedanke in p3b_265.039
die rhythmische Form gegossen war ─ mit der Selbstkritik begannen, um nunmehr p3b_265.040
entweder einzelne Bilder zu ergänzen, zu klären, durch malende Worte p3b_265.041
zu verschönen, oder den Versbau, die Strophenform, den Reim zu verändern, p3b_265.042
und ihr Gedicht auf eine möglichst hohe Stufe der Vollendung zu heben.
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