Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Dritter Band. Stuttgart, 1884.p3b_275.001 p3b_275.002 p3b_275.005 § 97. Schlußbemerkungen. p3b_275.006 p3b_275.010 p3b_275.012 p3b_275.015 p3b_275.036 p3b_275.001 p3b_275.002 p3b_275.005 § 97. Schlußbemerkungen. p3b_275.006 p3b_275.010 p3b_275.012 p3b_275.015 p3b_275.036 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0301" n="275"/> <p><lb n="p3b_275.001"/> Beleuchtung einzelner Momente der Feile.</p> <p><lb n="p3b_275.002"/> Das Original ist künstlicher gereimt. Die Schlußzeile jeder Strophe <lb n="p3b_275.003"/> reimt mit der 1. Zeile. Diesen Reim schenkt sich Hauff. Der unreine Reim <lb n="p3b_275.004"/> <hi rendition="#g">streiten</hi> ─ <hi rendition="#g">erleiden</hi> kann passieren, nicht aber <hi rendition="#g">blasen</hi> ─ <hi rendition="#g">lassen.</hi></p> </div> <div n="2"> <lb n="p3b_275.005"/> <head> <hi rendition="#c">§ 97. Schlußbemerkungen.</hi> </head> <p><lb n="p3b_275.006"/> Es dürfte nicht schwer werden, die Zahl der im Vorstehenden gegebenen <lb n="p3b_275.007"/> Beispiele um ein Bedeutendes zu vermehren und nachzuweisen, welch gewaltige <lb n="p3b_275.008"/> Arbeitskraft unsere hervorragendsten Dichter auf die Selbstkritik und Bethätigung <lb n="p3b_275.009"/> dichterischer Feile verwandten. Beispielsweise sei nur noch folgendes erwähnt:</p> <p><lb n="p3b_275.010"/><hi rendition="#g">Heine</hi> hat nachweislich manche seiner kleinen Lieder drei- und viermal <lb n="p3b_275.011"/> umgearbeitet.</p> <p><lb n="p3b_275.012"/><hi rendition="#g">Schiller</hi> hat an seinem „Liede an die Freude“ drei Tage lang herumgefeilt, <lb n="p3b_275.013"/> wobei er es dem (in unseren „Nachgelassene Gedichte Fr. Rückerts“ <lb n="p3b_275.014"/> näher charakterisierten) <hi rendition="#g">Fr. Schimper</hi> noch nicht einmal recht machte.</p> <p><lb n="p3b_275.015"/><hi rendition="#g">Goethe</hi> hat manche Dichtung mehrfach überarbeitet. Den Götz hat er <lb n="p3b_275.016"/> z. B. <hi rendition="#g">dreimal</hi> umgestaltet (vgl. die Bächtoldsche Ausg. in 3facher Gestalt <lb n="p3b_275.017"/> 1882); die Jphigenie schrieb er sogar <hi rendition="#g">viermal</hi> um. (Der erste in der <lb n="p3b_275.018"/> Berl. k. Bibliothek als Nr. 634 aufbewahrte Prosaentwurf, den Goethe vom <lb n="p3b_275.019"/> 14. Febr. bis 28. März 1779 herstellte, war ihm lediglich „<hi rendition="#g">eine Skizze, <lb n="p3b_275.020"/> bei welcher zu sehen sei, welche Farben man auflege</hi>“. Der Dichter <lb n="p3b_275.021"/> suchte zu erweitern, indem er im Frühling 1780 eine zweite, in der Dessauer <lb n="p3b_275.022"/> Bibliothek als Nr. 121 aufbewahrte Bearbeitung in freien Jamben lieferte. <lb n="p3b_275.023"/> Das Streben, „<hi rendition="#g">mehr Harmonie im Stil herzustellen</hi>“, veranlaßte die <lb n="p3b_275.024"/> vom April bis Nov. 1781 entstandene dritte Bearbeitung [in Prosa], welche <lb n="p3b_275.025"/> 1839 von Stahr herausgegeben wurde und 1842 in Goethe's nachgelassenen <lb n="p3b_275.026"/> Werken erschien. Goethe nennt dieselbe Lavater gegenüber nur eine <hi rendition="#g">flüchtige,</hi> <lb n="p3b_275.027"/> obwohl sie wesentliche Erweiterungen und sorgfältige Verbesserungen enthält. <lb n="p3b_275.028"/> Die endgültige, vollendete Gestalt im jambischen Quinar gab Goethe <lb n="p3b_275.029"/> der Jphigenie vom September bis Dezember 1786 während der italienischen <lb n="p3b_275.030"/> Reise. „Sie quillt“ ─ so schreibt er an Karl August ─ „auf, das stockende <lb n="p3b_275.031"/> Silbenmaß wird in fortgehende Harmonie verwandelt.“ Diese letzte Redaktion, <lb n="p3b_275.032"/> welche Goethe mit dem Namen „Schmerzenskind“ belegte [ein Beweis der ihm <lb n="p3b_275.033"/> durch sie erwachsenen Mühen], wurde ─ wahrscheinlich mit Herders Verbesserungen <lb n="p3b_275.034"/> ─ zum erstenmal an der Spitze des 3. Bandes seiner Schriften <lb n="p3b_275.035"/> [Leipzig, Göschens Verlag 1787 S. 1─136] veröffentlicht.)</p> <p><lb n="p3b_275.036"/><hi rendition="#g">Johannes Minckwitz,</hi> der die „nachhinkende“ Feile sehr lobenswert <lb n="p3b_275.037"/> findet, sofern sie nur geschickt angewandt wird, meint (in seiner, nur in <lb n="p3b_275.038"/> 100 Ex. gedruckten verdienstlichen Schrift „Die höhere Lyrik“), daß <hi rendition="#g">Horaz</hi> <lb n="p3b_275.039"/> an seinen im Stil so vollendeten Oden ─ hier den Text ausfüllend, dort <lb n="p3b_275.040"/> manche Strophe wegstreichend ─ gefeilt und gemeißelt habe, so lange er <lb n="p3b_275.041"/> lebte. Auch die Kolonnen der Rhapsoden hätten im Laufe so langer Jahrhunderte </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [275/0301]
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Beleuchtung einzelner Momente der Feile.
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Das Original ist künstlicher gereimt. Die Schlußzeile jeder Strophe p3b_275.003
reimt mit der 1. Zeile. Diesen Reim schenkt sich Hauff. Der unreine Reim p3b_275.004
streiten ─ erleiden kann passieren, nicht aber blasen ─ lassen.
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§ 97. Schlußbemerkungen. p3b_275.006
Es dürfte nicht schwer werden, die Zahl der im Vorstehenden gegebenen p3b_275.007
Beispiele um ein Bedeutendes zu vermehren und nachzuweisen, welch gewaltige p3b_275.008
Arbeitskraft unsere hervorragendsten Dichter auf die Selbstkritik und Bethätigung p3b_275.009
dichterischer Feile verwandten. Beispielsweise sei nur noch folgendes erwähnt:
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Heine hat nachweislich manche seiner kleinen Lieder drei- und viermal p3b_275.011
umgearbeitet.
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Schiller hat an seinem „Liede an die Freude“ drei Tage lang herumgefeilt, p3b_275.013
wobei er es dem (in unseren „Nachgelassene Gedichte Fr. Rückerts“ p3b_275.014
näher charakterisierten) Fr. Schimper noch nicht einmal recht machte.
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Goethe hat manche Dichtung mehrfach überarbeitet. Den Götz hat er p3b_275.016
z. B. dreimal umgestaltet (vgl. die Bächtoldsche Ausg. in 3facher Gestalt p3b_275.017
1882); die Jphigenie schrieb er sogar viermal um. (Der erste in der p3b_275.018
Berl. k. Bibliothek als Nr. 634 aufbewahrte Prosaentwurf, den Goethe vom p3b_275.019
14. Febr. bis 28. März 1779 herstellte, war ihm lediglich „eine Skizze, p3b_275.020
bei welcher zu sehen sei, welche Farben man auflege“. Der Dichter p3b_275.021
suchte zu erweitern, indem er im Frühling 1780 eine zweite, in der Dessauer p3b_275.022
Bibliothek als Nr. 121 aufbewahrte Bearbeitung in freien Jamben lieferte. p3b_275.023
Das Streben, „mehr Harmonie im Stil herzustellen“, veranlaßte die p3b_275.024
vom April bis Nov. 1781 entstandene dritte Bearbeitung [in Prosa], welche p3b_275.025
1839 von Stahr herausgegeben wurde und 1842 in Goethe's nachgelassenen p3b_275.026
Werken erschien. Goethe nennt dieselbe Lavater gegenüber nur eine flüchtige, p3b_275.027
obwohl sie wesentliche Erweiterungen und sorgfältige Verbesserungen enthält. p3b_275.028
Die endgültige, vollendete Gestalt im jambischen Quinar gab Goethe p3b_275.029
der Jphigenie vom September bis Dezember 1786 während der italienischen p3b_275.030
Reise. „Sie quillt“ ─ so schreibt er an Karl August ─ „auf, das stockende p3b_275.031
Silbenmaß wird in fortgehende Harmonie verwandelt.“ Diese letzte Redaktion, p3b_275.032
welche Goethe mit dem Namen „Schmerzenskind“ belegte [ein Beweis der ihm p3b_275.033
durch sie erwachsenen Mühen], wurde ─ wahrscheinlich mit Herders Verbesserungen p3b_275.034
─ zum erstenmal an der Spitze des 3. Bandes seiner Schriften p3b_275.035
[Leipzig, Göschens Verlag 1787 S. 1─136] veröffentlicht.)
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Johannes Minckwitz, der die „nachhinkende“ Feile sehr lobenswert p3b_275.037
findet, sofern sie nur geschickt angewandt wird, meint (in seiner, nur in p3b_275.038
100 Ex. gedruckten verdienstlichen Schrift „Die höhere Lyrik“), daß Horaz p3b_275.039
an seinen im Stil so vollendeten Oden ─ hier den Text ausfüllend, dort p3b_275.040
manche Strophe wegstreichend ─ gefeilt und gemeißelt habe, so lange er p3b_275.041
lebte. Auch die Kolonnen der Rhapsoden hätten im Laufe so langer Jahrhunderte
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