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Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 1. Stuttgart, 1898.

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Zwölftes Kapitel: Rückblick auf die preußische Politik.
weniger Veranlassung vor, als die unfreundlichen Machenschaften,
die kurz vorher zwischen dem Kaiser Nicolaus und König Karl X.
stattgefunden hatten, dem Berliner Cabinete nicht unbekannt waren.
Die Gemüthlichkeit der fürstlichen Familienbeziehungen war bei uns
in der Regel stark genug, um russische Sünden zu decken, es fehlte
aber die Gegenseitigkeit. Im Jahre 1813 hatte Rußland ohne
Zweifel einen Anspruch auf preußische Dankbarkeit erworben;
Alexander I. war im Februar 1813 und bis zum Wiener Congreß
seiner Zusage, Preußen in dem status quo ante wiederherzustellen,
im Großen und Ganzen treu geblieben, gewiß ohne die russischen
Interessen zu vergessen, aber doch so, daß dankbare Erinnerungen
Friedrich Wilhelms III. für ihn natürlich blieben. -- Solche Erinne¬
rungen waren in meinen Knabenjahren bis zum Tode Alexanders,
1825, auch in unserm Publikum noch sehr lebhaft; russische Gro߬
fürsten, Generale und gelegentlich in Berlin erscheinende Soldaten-
Abtheilungen genossen noch ein Erbtheil der Popularität, mit der
1813 die ersten Kosacken bei uns empfangen worden waren.

Flagrante Undankbarkeit, wie der Fürst Schwarzenberg sie
proclamirte, ist in der Politik wie im Privatleben nicht nur un¬
schön, sondern auch unklug. Wir haben aber unsre Schuld aus¬
geglichen, nicht nur zur Zeit der Nothlage der Russen bei Adria¬
nopel 1829 und durch unser Verhalten in Polen 1831, sondern in
der ganzen Zeit unter Nicolaus I., der der deutschen Romantik
und Gemüthlichkeit ferner stand als Alexander I., wenn er auch
mit seinen preußischen Verwandten und mit preußischen Offizieren
freundlich verkehrte. Unter seiner Regirung haben wir als russische
Vasallen gelebt, 1831, wo Rußland ohne uns kaum mit den Polen
fertig geworden wäre, namentlich aber in allen europäischen Con¬
stellationen von 1831 bis 1850, wo wir immer russische Wechsel
acceptirt und honorirt haben, bis nach 1848 der junge östreichische
Kaiser dem russischen besser gefiel als der König von Preußen, wo
der russische Schiedsrichter kalt und hart gegen Preußen und deutsche
Bestrebungen entschied und sich für die Freundschaftsdienste von

Zwölftes Kapitel: Rückblick auf die preußiſche Politik.
weniger Veranlaſſung vor, als die unfreundlichen Machenſchaften,
die kurz vorher zwiſchen dem Kaiſer Nicolaus und König Karl X.
ſtattgefunden hatten, dem Berliner Cabinete nicht unbekannt waren.
Die Gemüthlichkeit der fürſtlichen Familienbeziehungen war bei uns
in der Regel ſtark genug, um ruſſiſche Sünden zu decken, es fehlte
aber die Gegenſeitigkeit. Im Jahre 1813 hatte Rußland ohne
Zweifel einen Anſpruch auf preußiſche Dankbarkeit erworben;
Alexander I. war im Februar 1813 und bis zum Wiener Congreß
ſeiner Zuſage, Preußen in dem ſtatus quo ante wiederherzuſtellen,
im Großen und Ganzen treu geblieben, gewiß ohne die ruſſiſchen
Intereſſen zu vergeſſen, aber doch ſo, daß dankbare Erinnerungen
Friedrich Wilhelms III. für ihn natürlich blieben. — Solche Erinne¬
rungen waren in meinen Knabenjahren bis zum Tode Alexanders,
1825, auch in unſerm Publikum noch ſehr lebhaft; ruſſiſche Gro߬
fürſten, Generale und gelegentlich in Berlin erſcheinende Soldaten-
Abtheilungen genoſſen noch ein Erbtheil der Popularität, mit der
1813 die erſten Koſacken bei uns empfangen worden waren.

Flagrante Undankbarkeit, wie der Fürſt Schwarzenberg ſie
proclamirte, iſt in der Politik wie im Privatleben nicht nur un¬
ſchön, ſondern auch unklug. Wir haben aber unſre Schuld aus¬
geglichen, nicht nur zur Zeit der Nothlage der Ruſſen bei Adria¬
nopel 1829 und durch unſer Verhalten in Polen 1831, ſondern in
der ganzen Zeit unter Nicolaus I., der der deutſchen Romantik
und Gemüthlichkeit ferner ſtand als Alexander I., wenn er auch
mit ſeinen preußiſchen Verwandten und mit preußiſchen Offizieren
freundlich verkehrte. Unter ſeiner Regirung haben wir als ruſſiſche
Vaſallen gelebt, 1831, wo Rußland ohne uns kaum mit den Polen
fertig geworden wäre, namentlich aber in allen europäiſchen Con¬
ſtellationen von 1831 bis 1850, wo wir immer ruſſiſche Wechſel
acceptirt und honorirt haben, bis nach 1848 der junge öſtreichiſche
Kaiſer dem ruſſiſchen beſſer gefiel als der König von Preußen, wo
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[274/0301] Zwölftes Kapitel: Rückblick auf die preußiſche Politik. weniger Veranlaſſung vor, als die unfreundlichen Machenſchaften, die kurz vorher zwiſchen dem Kaiſer Nicolaus und König Karl X. ſtattgefunden hatten, dem Berliner Cabinete nicht unbekannt waren. Die Gemüthlichkeit der fürſtlichen Familienbeziehungen war bei uns in der Regel ſtark genug, um ruſſiſche Sünden zu decken, es fehlte aber die Gegenſeitigkeit. Im Jahre 1813 hatte Rußland ohne Zweifel einen Anſpruch auf preußiſche Dankbarkeit erworben; Alexander I. war im Februar 1813 und bis zum Wiener Congreß ſeiner Zuſage, Preußen in dem ſtatus quo ante wiederherzuſtellen, im Großen und Ganzen treu geblieben, gewiß ohne die ruſſiſchen Intereſſen zu vergeſſen, aber doch ſo, daß dankbare Erinnerungen Friedrich Wilhelms III. für ihn natürlich blieben. — Solche Erinne¬ rungen waren in meinen Knabenjahren bis zum Tode Alexanders, 1825, auch in unſerm Publikum noch ſehr lebhaft; ruſſiſche Gro߬ fürſten, Generale und gelegentlich in Berlin erſcheinende Soldaten- Abtheilungen genoſſen noch ein Erbtheil der Popularität, mit der 1813 die erſten Koſacken bei uns empfangen worden waren. Flagrante Undankbarkeit, wie der Fürſt Schwarzenberg ſie proclamirte, iſt in der Politik wie im Privatleben nicht nur un¬ ſchön, ſondern auch unklug. Wir haben aber unſre Schuld aus¬ geglichen, nicht nur zur Zeit der Nothlage der Ruſſen bei Adria¬ nopel 1829 und durch unſer Verhalten in Polen 1831, ſondern in der ganzen Zeit unter Nicolaus I., der der deutſchen Romantik und Gemüthlichkeit ferner ſtand als Alexander I., wenn er auch mit ſeinen preußiſchen Verwandten und mit preußiſchen Offizieren freundlich verkehrte. Unter ſeiner Regirung haben wir als ruſſiſche Vaſallen gelebt, 1831, wo Rußland ohne uns kaum mit den Polen fertig geworden wäre, namentlich aber in allen europäiſchen Con¬ ſtellationen von 1831 bis 1850, wo wir immer ruſſiſche Wechſel acceptirt und honorirt haben, bis nach 1848 der junge öſtreichiſche Kaiſer dem ruſſiſchen beſſer gefiel als der König von Preußen, wo der ruſſiſche Schiedsrichter kalt und hart gegen Preußen und deutſche Beſtrebungen entſchied und ſich für die Freundſchaftsdienſte von

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Zitationshilfe: Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 1. Stuttgart, 1898, S. 274. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen01_1898/301>, abgerufen am 21.11.2024.