Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898.Achtundzwanzigstes Kapitel: Berliner Congreß. eigne Interessen zu schädigen, erfuhren wir statt der erwarteten An¬erkennung eine nörgelnde Mißbilligung, weil wir angeblich in Rich¬ tung und Maß nicht das von unserm russischen Freunde Erwartete getroffen hatten. Auch wenn letztres unzweifelhaft der Fall war, hatten wir keinen bessern Erfolg. In diesem ganzen Verfahren lag eine berechnete Unehrlichkeit nicht nur uns, sondern auch dem Kaiser Alexander gegenüber, dessen Gemüthe die deutsche Politik als unehrlich und unzuverlässig erscheinen sollte. Votre amitie est trop platonique, hat die Kaiserin Marie einem unsrer Vertreter vorwurfsvoll gesagt. Platonisch bleibt die Freundschaft eines gro߬ mächtlichen Cabinets für die andern allerdings immer bis zu einem gewissen Grade; denn keine Großmacht kann sich in den ausschlie߬ lichen Dienst einer andern stellen. Sie wird immer ihre, nicht nur gegenwärtigen, sondern auch zukünftigen Beziehungen zu den übrigen im Auge behalten und dauernde, prinzipielle Feindschaft mit jeder von ihnen nach Möglichkeit vermeiden müssen. Für Deutschland mit seiner centralen, nach drei großen Angriffsfronten offnen Lage trifft das besonders zu. Irrthümer in der Cabinetspolitik der großen Mächte strafen 1) Vgl. dazu die einer Depesche entnommene Charakteristik der Situation
im Bismarck-Jahrbuch I 125 ff. Achtundzwanzigſtes Kapitel: Berliner Congreß. eigne Intereſſen zu ſchädigen, erfuhren wir ſtatt der erwarteten An¬erkennung eine nörgelnde Mißbilligung, weil wir angeblich in Rich¬ tung und Maß nicht das von unſerm ruſſiſchen Freunde Erwartete getroffen hatten. Auch wenn letztres unzweifelhaft der Fall war, hatten wir keinen beſſern Erfolg. In dieſem ganzen Verfahren lag eine berechnete Unehrlichkeit nicht nur uns, ſondern auch dem Kaiſer Alexander gegenüber, deſſen Gemüthe die deutſche Politik als unehrlich und unzuverläſſig erſcheinen ſollte. Votre amitié est trop platonique, hat die Kaiſerin Marie einem unſrer Vertreter vorwurfsvoll geſagt. Platoniſch bleibt die Freundſchaft eines gro߬ mächtlichen Cabinets für die andern allerdings immer bis zu einem gewiſſen Grade; denn keine Großmacht kann ſich in den ausſchlie߬ lichen Dienſt einer andern ſtellen. Sie wird immer ihre, nicht nur gegenwärtigen, ſondern auch zukünftigen Beziehungen zu den übrigen im Auge behalten und dauernde, prinzipielle Feindſchaft mit jeder von ihnen nach Möglichkeit vermeiden müſſen. Für Deutſchland mit ſeiner centralen, nach drei großen Angriffsfronten offnen Lage trifft das beſonders zu. Irrthümer in der Cabinetspolitik der großen Mächte ſtrafen 1) Vgl. dazu die einer Depeſche entnommene Charakteriſtik der Situation
im Bismarck-Jahrbuch I 125 ff. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0242" n="218"/><fw place="top" type="header">Achtundzwanzigſtes Kapitel: Berliner Congreß.<lb/></fw> eigne Intereſſen zu ſchädigen, erfuhren wir ſtatt der erwarteten An¬<lb/> erkennung eine nörgelnde Mißbilligung, weil wir angeblich in Rich¬<lb/> tung und Maß nicht das von unſerm ruſſiſchen Freunde Erwartete<lb/> getroffen hatten. Auch wenn letztres unzweifelhaft der Fall war,<lb/> hatten wir keinen beſſern Erfolg. In dieſem ganzen Verfahren<lb/> lag eine berechnete Unehrlichkeit nicht nur uns, ſondern auch dem<lb/> Kaiſer Alexander gegenüber, deſſen Gemüthe die deutſche Politik<lb/> als unehrlich und unzuverläſſig erſcheinen ſollte. <hi rendition="#aq">Votre amitié est<lb/> trop platonique</hi>, hat die Kaiſerin Marie einem unſrer Vertreter<lb/> vorwurfsvoll geſagt. Platoniſch bleibt die Freundſchaft eines gro߬<lb/> mächtlichen Cabinets für die andern allerdings immer bis zu einem<lb/> gewiſſen Grade; denn keine Großmacht kann ſich in den ausſchlie߬<lb/> lichen Dienſt einer andern ſtellen. Sie wird immer ihre, nicht nur<lb/> gegenwärtigen, ſondern auch zukünftigen Beziehungen zu den übrigen<lb/> im Auge behalten und dauernde, prinzipielle Feindſchaft mit jeder<lb/> von ihnen nach Möglichkeit vermeiden müſſen. Für Deutſchland<lb/> mit ſeiner centralen, nach drei großen Angriffsfronten offnen Lage<lb/> trifft das beſonders zu.</p><lb/> <p>Irrthümer in der Cabinetspolitik der großen Mächte ſtrafen<lb/> ſich nicht ſofort, weder in Petersburg noch in Berlin, aber un¬<lb/> ſchädlich ſind ſie nie. Die geſchichtliche Logik iſt noch genauer in<lb/> ihren Reviſionen als unſre Oberrechenkammer. Bei Ausführung<lb/> der Congreßbeſchlüſſe erwartete und verlangte Rußland, daß die<lb/> deutſchen Commiſſarien bei localen Verhandlungen darüber im Orient,<lb/> bei Divergenzen zwiſchen ruſſiſchen und andern Auffaſſungen, generell<lb/> der ruſſiſchen zuſtimmen ſollten<note place="foot" n="1)">Vgl. dazu die einer Depeſche entnommene Charakteriſtik der Situation<lb/> im Bismarck-Jahrbuch <hi rendition="#aq">I</hi> 125 ff.</note>. Uns konnte in manchen Fragen<lb/> allerdings die objective Entſcheidung ziemlich gleichgültig ſein, es kam<lb/> für uns nur darauf an, die Stipulationen ehrlich auszulegen und<lb/> unſre Beziehungen auch zu den übrigen Großmächten nicht durch<lb/> parteiiſches Verhalten zu ſtören in Localfragen, die ein deutſches<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [218/0242]
Achtundzwanzigſtes Kapitel: Berliner Congreß.
eigne Intereſſen zu ſchädigen, erfuhren wir ſtatt der erwarteten An¬
erkennung eine nörgelnde Mißbilligung, weil wir angeblich in Rich¬
tung und Maß nicht das von unſerm ruſſiſchen Freunde Erwartete
getroffen hatten. Auch wenn letztres unzweifelhaft der Fall war,
hatten wir keinen beſſern Erfolg. In dieſem ganzen Verfahren
lag eine berechnete Unehrlichkeit nicht nur uns, ſondern auch dem
Kaiſer Alexander gegenüber, deſſen Gemüthe die deutſche Politik
als unehrlich und unzuverläſſig erſcheinen ſollte. Votre amitié est
trop platonique, hat die Kaiſerin Marie einem unſrer Vertreter
vorwurfsvoll geſagt. Platoniſch bleibt die Freundſchaft eines gro߬
mächtlichen Cabinets für die andern allerdings immer bis zu einem
gewiſſen Grade; denn keine Großmacht kann ſich in den ausſchlie߬
lichen Dienſt einer andern ſtellen. Sie wird immer ihre, nicht nur
gegenwärtigen, ſondern auch zukünftigen Beziehungen zu den übrigen
im Auge behalten und dauernde, prinzipielle Feindſchaft mit jeder
von ihnen nach Möglichkeit vermeiden müſſen. Für Deutſchland
mit ſeiner centralen, nach drei großen Angriffsfronten offnen Lage
trifft das beſonders zu.
Irrthümer in der Cabinetspolitik der großen Mächte ſtrafen
ſich nicht ſofort, weder in Petersburg noch in Berlin, aber un¬
ſchädlich ſind ſie nie. Die geſchichtliche Logik iſt noch genauer in
ihren Reviſionen als unſre Oberrechenkammer. Bei Ausführung
der Congreßbeſchlüſſe erwartete und verlangte Rußland, daß die
deutſchen Commiſſarien bei localen Verhandlungen darüber im Orient,
bei Divergenzen zwiſchen ruſſiſchen und andern Auffaſſungen, generell
der ruſſiſchen zuſtimmen ſollten 1). Uns konnte in manchen Fragen
allerdings die objective Entſcheidung ziemlich gleichgültig ſein, es kam
für uns nur darauf an, die Stipulationen ehrlich auszulegen und
unſre Beziehungen auch zu den übrigen Großmächten nicht durch
parteiiſches Verhalten zu ſtören in Localfragen, die ein deutſches
1) Vgl. dazu die einer Depeſche entnommene Charakteriſtik der Situation
im Bismarck-Jahrbuch I 125 ff.
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