Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898.Einunddreißigstes Kapitel: Der Staatsrath. vorgelegt haben. Noch viel weniger verwenden die übrigen MinisterZeit und Mühe darauf, sich mit Inhalt und Tragweite eines neuen Gesetzes in allen Einzelheiten vertraut zu machen, wenn es nicht Wirkungen hat, die in ihr eignes Ressort eingreifen. Ist das aber der Fall, so regt sich das Unabhängigkeitsgefühl und der Particularismus, wovon jeder der acht föderirten ministe¬ riellen Staaten und jeder Rath in seiner Sphäre beseelt ist. Die Wirkung eines beabsichtigten Gesetzes auf das praktische Leben im Voraus zu beurtheilen, wird aber auch der Ressortminister nicht im Stande sein, wenn er selbst ein einseitiges Product der Büro¬ kratie ist, noch viel weniger aber seine Collegen. Diejenigen unter ihnen, die das Bewußtsein haben, nicht nur Ressortminister, sondern Staatsminister mit solidarischer Verantwortlichkeit für die Gesammtpolitik zu sein, machen nicht fünf Procent derer aus, welche ich zu beobachten Gelegenheit gehabt habe. Die übrigen beschränken sich auf das Bestreben, ihr Ressort einwandfrei zu ver¬ walten, die Geldmittel dazu von dem Finanzminister und dem Landtage bewilligt zu erhalten und parlamentarische Angriffe auf ihr Ressort mit Beredsamkeit und nach Bedürfniß unter Preisgebung ihrer Untergebenen erfolgreich abzuwehren. Die Quittungen, die in der königlichen Unterschrift und der parlamentarischen Be¬ willigung liegen, sind ausreichend, um daneben die Frage, ob die Sache an sich vernünftig sei, vor einem bürokratisch-ministeriellen Gewissen nicht zur Entscheidung kommen zu lassen. Einreden eines Collegen, dessen Ressort nicht direct betheiligt ist, erregen die Em¬ pfindlichkeit des Ressortministers, und diese wird in der Regel ge¬ schont, im Hinblick auf gleiche Schonung, die man für eigne An¬ träge vorkommenden Falls erwartet. Ich habe die Erinnerung, daß die Erörterungen des alten Staatsraths vor 1848, aus dem ich einige hervorragende Mitglieder gekannt habe, mit schärferer An¬ strengung des eignen Urtheils und größerer Regsamkeit des Ge¬ wissens geführt worden sind, als die Ministerberathungen, die ich mehr als vierzig Jahre lang zu beobachten in der Lage gewesen bin. Einunddreißigſtes Kapitel: Der Staatsrath. vorgelegt haben. Noch viel weniger verwenden die übrigen MiniſterZeit und Mühe darauf, ſich mit Inhalt und Tragweite eines neuen Geſetzes in allen Einzelheiten vertraut zu machen, wenn es nicht Wirkungen hat, die in ihr eignes Reſſort eingreifen. Iſt das aber der Fall, ſo regt ſich das Unabhängigkeitsgefühl und der Particularismus, wovon jeder der acht föderirten miniſte¬ riellen Staaten und jeder Rath in ſeiner Sphäre beſeelt iſt. Die Wirkung eines beabſichtigten Geſetzes auf das praktiſche Leben im Voraus zu beurtheilen, wird aber auch der Reſſortminiſter nicht im Stande ſein, wenn er ſelbſt ein einſeitiges Product der Büro¬ kratie iſt, noch viel weniger aber ſeine Collegen. Diejenigen unter ihnen, die das Bewußtſein haben, nicht nur Reſſortminiſter, ſondern Staatsminiſter mit ſolidariſcher Verantwortlichkeit für die Geſammtpolitik zu ſein, machen nicht fünf Procent derer aus, welche ich zu beobachten Gelegenheit gehabt habe. Die übrigen beſchränken ſich auf das Beſtreben, ihr Reſſort einwandfrei zu ver¬ walten, die Geldmittel dazu von dem Finanzminiſter und dem Landtage bewilligt zu erhalten und parlamentariſche Angriffe auf ihr Reſſort mit Beredſamkeit und nach Bedürfniß unter Preisgebung ihrer Untergebenen erfolgreich abzuwehren. Die Quittungen, die in der königlichen Unterſchrift und der parlamentariſchen Be¬ willigung liegen, ſind ausreichend, um daneben die Frage, ob die Sache an ſich vernünftig ſei, vor einem bürokratiſch-miniſteriellen Gewiſſen nicht zur Entſcheidung kommen zu laſſen. Einreden eines Collegen, deſſen Reſſort nicht direct betheiligt iſt, erregen die Em¬ pfindlichkeit des Reſſortminiſters, und dieſe wird in der Regel ge¬ ſchont, im Hinblick auf gleiche Schonung, die man für eigne An¬ träge vorkommenden Falls erwartet. Ich habe die Erinnerung, daß die Erörterungen des alten Staatsraths vor 1848, aus dem ich einige hervorragende Mitglieder gekannt habe, mit ſchärferer An¬ ſtrengung des eignen Urtheils und größerer Regſamkeit des Ge¬ wiſſens geführt worden ſind, als die Miniſterberathungen, die ich mehr als vierzig Jahre lang zu beobachten in der Lage geweſen bin. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0296" n="272"/><fw place="top" type="header">Einunddreißigſtes Kapitel: Der Staatsrath.<lb/></fw>vorgelegt haben. Noch viel weniger verwenden die übrigen Miniſter<lb/> Zeit und Mühe darauf, ſich mit Inhalt und Tragweite eines<lb/> neuen Geſetzes in allen Einzelheiten vertraut zu machen, wenn<lb/> es nicht Wirkungen hat, die in ihr eignes Reſſort eingreifen.<lb/> Iſt das aber der Fall, ſo regt ſich das Unabhängigkeitsgefühl<lb/> und der Particularismus, wovon jeder der acht föderirten miniſte¬<lb/> riellen Staaten und jeder Rath in ſeiner Sphäre beſeelt iſt. 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Einunddreißigſtes Kapitel: Der Staatsrath.
vorgelegt haben. Noch viel weniger verwenden die übrigen Miniſter
Zeit und Mühe darauf, ſich mit Inhalt und Tragweite eines
neuen Geſetzes in allen Einzelheiten vertraut zu machen, wenn
es nicht Wirkungen hat, die in ihr eignes Reſſort eingreifen.
Iſt das aber der Fall, ſo regt ſich das Unabhängigkeitsgefühl
und der Particularismus, wovon jeder der acht föderirten miniſte¬
riellen Staaten und jeder Rath in ſeiner Sphäre beſeelt iſt. Die
Wirkung eines beabſichtigten Geſetzes auf das praktiſche Leben im
Voraus zu beurtheilen, wird aber auch der Reſſortminiſter nicht
im Stande ſein, wenn er ſelbſt ein einſeitiges Product der Büro¬
kratie iſt, noch viel weniger aber ſeine Collegen. Diejenigen unter
ihnen, die das Bewußtſein haben, nicht nur Reſſortminiſter,
ſondern Staatsminiſter mit ſolidariſcher Verantwortlichkeit für die
Geſammtpolitik zu ſein, machen nicht fünf Procent derer aus,
welche ich zu beobachten Gelegenheit gehabt habe. Die übrigen
beſchränken ſich auf das Beſtreben, ihr Reſſort einwandfrei zu ver¬
walten, die Geldmittel dazu von dem Finanzminiſter und dem
Landtage bewilligt zu erhalten und parlamentariſche Angriffe auf ihr
Reſſort mit Beredſamkeit und nach Bedürfniß unter Preisgebung
ihrer Untergebenen erfolgreich abzuwehren. Die Quittungen, die
in der königlichen Unterſchrift und der parlamentariſchen Be¬
willigung liegen, ſind ausreichend, um daneben die Frage, ob die
Sache an ſich vernünftig ſei, vor einem bürokratiſch-miniſteriellen
Gewiſſen nicht zur Entſcheidung kommen zu laſſen. Einreden eines
Collegen, deſſen Reſſort nicht direct betheiligt iſt, erregen die Em¬
pfindlichkeit des Reſſortminiſters, und dieſe wird in der Regel ge¬
ſchont, im Hinblick auf gleiche Schonung, die man für eigne An¬
träge vorkommenden Falls erwartet. Ich habe die Erinnerung, daß
die Erörterungen des alten Staatsraths vor 1848, aus dem ich
einige hervorragende Mitglieder gekannt habe, mit ſchärferer An¬
ſtrengung des eignen Urtheils und größerer Regſamkeit des Ge¬
wiſſens geführt worden ſind, als die Miniſterberathungen, die ich
mehr als vierzig Jahre lang zu beobachten in der Lage geweſen bin.
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