für dich, kleines, verächtliches Herz! Jst das nun die Frucht eines vieljährigen Nach- denkens über das was Recht und Unrecht ist, über das was man lieben, hassen, oder für gleichgültig halten soll? Eine einzige scheinbare Idee, die villeicht nur ein be- trüglicher Traum einer erhitzten Phantasie ist, bringt diese fremde Wirkung hervor. Diese lange, so sorgfältig geknüpfte Kette moralischer Weisheit reisst in einem fatalen Augenblicke ab. Schon hatte ich, das dacht' ich, die heitre Höhe erreicht, wo ich die Stürme der Leidenschaften verach- ten zu können glaubte: Und ich stehe nun, wie durch den Schlag eines Zauberstabes, auf einmal, mit allen übrigen ehrlichen Bürgern der Erde, auf gleichem, ebenen Boden, allen menschlichen Schwachheiten und Begegnissen ausgesezt! Und so klein ist wohl niemand, als ich mir selbst nach
für dich, kleines, verächtliches Herz! Jſt das nun die Frucht eines vieljährigen Nach- denkens über das was Recht und Unrecht iſt, über das was man lieben, haſsen, oder für gleichgültig halten ſoll? Eine einzige ſcheinbare Idee, die villeicht nur ein be- trüglicher Traum einer erhitzten Phantaſie iſt, bringt dieſe fremde Wirkung hervor. Dieſe lange, ſo ſorgfältig geknüpfte Kette moraliſcher Weisheit reiſst in einem fatalen Augenblicke ab. Schon hatte ich, das dacht’ ich, die heitre Höhe erreicht, wo ich die Stürme der Leidenſchaften verach- ten zu können glaubte: Und ich ſtehe nun, wie durch den Schlag eines Zauberſtabes, auf einmal, mit allen übrigen ehrlichen Bürgern der Erde, auf gleichem, ebenen Boden, allen menſchlichen Schwachheiten und Begegniſsen ausgeſezt! Und ſo klein iſt wohl niemand, als ich mir ſelbſt nach
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0031"n="23"/>
für dich, kleines, verächtliches Herz! Jſt<lb/>
das nun die Frucht eines vieljährigen Nach-<lb/>
denkens über das was Recht und Unrecht<lb/>
iſt, über das was man lieben, haſsen, oder<lb/>
für gleichgültig halten ſoll? Eine einzige<lb/>ſcheinbare Idee, die villeicht nur ein be-<lb/>
trüglicher Traum einer erhitzten Phantaſie<lb/>
iſt, bringt dieſe fremde Wirkung hervor.<lb/>
Dieſe lange, ſo ſorgfältig geknüpfte Kette<lb/>
moraliſcher Weisheit reiſst in einem fatalen<lb/>
Augenblicke ab. Schon hatte ich, das<lb/>
dacht’ ich, die heitre Höhe erreicht, wo<lb/>
ich die Stürme der Leidenſchaften verach-<lb/>
ten zu können glaubte: Und ich ſtehe nun,<lb/>
wie durch den Schlag eines Zauberſtabes,<lb/>
auf einmal, mit allen übrigen ehrlichen<lb/>
Bürgern der Erde, auf gleichem, ebenen<lb/>
Boden, allen menſchlichen Schwachheiten<lb/>
und Begegniſsen ausgeſezt! Und ſo klein<lb/>
iſt wohl niemand, als ich mir ſelbſt nach<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[23/0031]
für dich, kleines, verächtliches Herz! Jſt
das nun die Frucht eines vieljährigen Nach-
denkens über das was Recht und Unrecht
iſt, über das was man lieben, haſsen, oder
für gleichgültig halten ſoll? Eine einzige
ſcheinbare Idee, die villeicht nur ein be-
trüglicher Traum einer erhitzten Phantaſie
iſt, bringt dieſe fremde Wirkung hervor.
Dieſe lange, ſo ſorgfältig geknüpfte Kette
moraliſcher Weisheit reiſst in einem fatalen
Augenblicke ab. Schon hatte ich, das
dacht’ ich, die heitre Höhe erreicht, wo
ich die Stürme der Leidenſchaften verach-
ten zu können glaubte: Und ich ſtehe nun,
wie durch den Schlag eines Zauberſtabes,
auf einmal, mit allen übrigen ehrlichen
Bürgern der Erde, auf gleichem, ebenen
Boden, allen menſchlichen Schwachheiten
und Begegniſsen ausgeſezt! Und ſo klein
iſt wohl niemand, als ich mir ſelbſt nach
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Blum, Joachim Christian: Spatziergänge. Bd. 1. Berlin, 1774, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/blum_spatziergaenge01_1774/31>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.