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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Vierz. Cap. II. Mon. Statsformen. G. Const. Monarchie. 1. Entstehung etc.

Bei der Bildung der Kammern ahmte man das englische
und das französische Vorbild nach. Aber die Ersten Kammern
wurden vorzugsweise auf den Grundadel gebaut, dessen An-
sprüche und Ansichten groszentheils einer untergegangenen
Weltordnung angehörten, auch wohl mit abhängigen Dienern
der Höfe ergänzt, so dasz sie deszhalb nicht zu rechtem An-
sehen und gedeihlicher Wirksamkeit gelangen konnten. Die
Zweiten Kammern wurden dagegen weniger plutokratisch be-
setzt, als in Frankreich. Weil sie sich meistens an die von
Alters hergebrachten Stände anschlossen, so hat man diese
Verfassung auch oft mit Emphase als eine "ständische und
keine repräsentative" bezeichnet. Aber mit Unrecht; denn
nicht das ist der Charakter der Repräsentativverfassung
im Gegensatze zu der mittelalterlichen ständischen, dasz
in jener die verschiedenen Stände des Volkes nicht berück-
sichtigt werden dürfen, sondern dasz die Stellvertretung in
jener, auch wenn sie nach Ständen oder Classen gegliedert
ist, dennoch vornehmlich eine nationale sei, und die Ein-
heit des Volkes und des States
, nicht die Gespalten-
heit derselben in die Sonderinteressen der Stände darstelle.
Dieses Princip ist aber z. B. in der bayerischen Verfassung
von 1818 ausdrücklich anerkannt, indem die Abgeordneten
schwören müssen: "nur des ganzen Landes allgemeines Wohl
und Beste ohne Rücksicht auf besondere Stände oder Classen
nach Ueberzeugung zu berathen."

Die Entwicklung der constitutionellen Monarchie wurde
noch während Jahrzehnten hauptsächlich durch die beiden
deutschen Groszstaten gehemmt, deren Regierungen sich gegen
diese Statsform entschieden misztrauisch und abgeneigt ver-
hielten. In Preuszen verliefen die Reformbestrebungen im
Sand. Anstatt der verheiszenen Repräsentation des Volks
kam es zuletzt (1823) nur zu berathenden Provincial-
ständen
. Die österreichische Regierung glaubte die
Einheit des zusammengesetzten Statswesens nur durch die

Vierz. Cap. II. Mon. Statsformen. G. Const. Monarchie. 1. Entstehung etc.

Bei der Bildung der Kammern ahmte man das englische
und das französische Vorbild nach. Aber die Ersten Kammern
wurden vorzugsweise auf den Grundadel gebaut, dessen An-
sprüche und Ansichten groszentheils einer untergegangenen
Weltordnung angehörten, auch wohl mit abhängigen Dienern
der Höfe ergänzt, so dasz sie deszhalb nicht zu rechtem An-
sehen und gedeihlicher Wirksamkeit gelangen konnten. Die
Zweiten Kammern wurden dagegen weniger plutokratisch be-
setzt, als in Frankreich. Weil sie sich meistens an die von
Alters hergebrachten Stände anschlossen, so hat man diese
Verfassung auch oft mit Emphase als eine „ständische und
keine repräsentative“ bezeichnet. Aber mit Unrecht; denn
nicht das ist der Charakter der Repräsentativverfassung
im Gegensatze zu der mittelalterlichen ständischen, dasz
in jener die verschiedenen Stände des Volkes nicht berück-
sichtigt werden dürfen, sondern dasz die Stellvertretung in
jener, auch wenn sie nach Ständen oder Classen gegliedert
ist, dennoch vornehmlich eine nationale sei, und die Ein-
heit des Volkes und des States
, nicht die Gespalten-
heit derselben in die Sonderinteressen der Stände darstelle.
Dieses Princip ist aber z. B. in der bayerischen Verfassung
von 1818 ausdrücklich anerkannt, indem die Abgeordneten
schwören müssen: „nur des ganzen Landes allgemeines Wohl
und Beste ohne Rücksicht auf besondere Stände oder Classen
nach Ueberzeugung zu berathen.“

Die Entwicklung der constitutionellen Monarchie wurde
noch während Jahrzehnten hauptsächlich durch die beiden
deutschen Groszstaten gehemmt, deren Regierungen sich gegen
diese Statsform entschieden misztrauisch und abgeneigt ver-
hielten. In Preuszen verliefen die Reformbestrebungen im
Sand. Anstatt der verheiszenen Repräsentation des Volks
kam es zuletzt (1823) nur zu berathenden Provincial-
ständen
. Die österreichische Regierung glaubte die
Einheit des zusammengesetzten Statswesens nur durch die

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[475/0493] Vierz. Cap. II. Mon. Statsformen. G. Const. Monarchie. 1. Entstehung etc. Bei der Bildung der Kammern ahmte man das englische und das französische Vorbild nach. Aber die Ersten Kammern wurden vorzugsweise auf den Grundadel gebaut, dessen An- sprüche und Ansichten groszentheils einer untergegangenen Weltordnung angehörten, auch wohl mit abhängigen Dienern der Höfe ergänzt, so dasz sie deszhalb nicht zu rechtem An- sehen und gedeihlicher Wirksamkeit gelangen konnten. Die Zweiten Kammern wurden dagegen weniger plutokratisch be- setzt, als in Frankreich. Weil sie sich meistens an die von Alters hergebrachten Stände anschlossen, so hat man diese Verfassung auch oft mit Emphase als eine „ständische und keine repräsentative“ bezeichnet. Aber mit Unrecht; denn nicht das ist der Charakter der Repräsentativverfassung im Gegensatze zu der mittelalterlichen ständischen, dasz in jener die verschiedenen Stände des Volkes nicht berück- sichtigt werden dürfen, sondern dasz die Stellvertretung in jener, auch wenn sie nach Ständen oder Classen gegliedert ist, dennoch vornehmlich eine nationale sei, und die Ein- heit des Volkes und des States, nicht die Gespalten- heit derselben in die Sonderinteressen der Stände darstelle. Dieses Princip ist aber z. B. in der bayerischen Verfassung von 1818 ausdrücklich anerkannt, indem die Abgeordneten schwören müssen: „nur des ganzen Landes allgemeines Wohl und Beste ohne Rücksicht auf besondere Stände oder Classen nach Ueberzeugung zu berathen.“ Die Entwicklung der constitutionellen Monarchie wurde noch während Jahrzehnten hauptsächlich durch die beiden deutschen Groszstaten gehemmt, deren Regierungen sich gegen diese Statsform entschieden misztrauisch und abgeneigt ver- hielten. In Preuszen verliefen die Reformbestrebungen im Sand. Anstatt der verheiszenen Repräsentation des Volks kam es zuletzt (1823) nur zu berathenden Provincial- ständen. Die österreichische Regierung glaubte die Einheit des zusammengesetzten Statswesens nur durch die

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 475. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/493>, abgerufen am 24.11.2024.