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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Sechstes Buch. Die Statsformen.
die Ausbeutung und die despotische Unterdrückung der Hin-
dus
in Indien, der Neger auf Jamaica durch die eng-
lischen Statthalter
4 sind beredte Zeugnisse für diesen
Charakterzug.

Ist eine übermäszige Beweglichkeit und Veränderlichkeit
gewöhnlich mit der gebildeten Demokratie verbunden, so ist
umgekehrt eine übertriebene Zähigkeit und Unveränder-
lichkeit
der herkömmlichen Verhältnisse eine häufige Eigen-
schaft der Aristokratie. Die Demokratie, im Vorgefühl ihrer
Macht, vergiszt leicht, indem sie diese schrankenlos ausübt,
die Bedingungen ihrer Erhaltung. Die Aristokratie dagegen,
voller Sorgen für ihre unverkümmerte Erhaltung, geräth
nicht selten in den Irrthum: indem sie sich starr an das Alte
anklammere und jede Neuerung abwehre, werde sie ihre
Herrschaft am besten sichern. In der That versteht sie es
meistens besser als die Demokratie, sich selber zu con-
serviren
, und durchweg haben die Aristokratien einen
längeren Bestand gehabt als die Demokratien. Sie ver-
meidet die Statsexperimente, sie hat Scheu vor raschen
Sprüngen; in gemessenem Gang schreitet sie bedachtsam vor-
wärts, und entwickelt nur wenn wirkliche Gefahr droht, dann
zuweilen die Monarchie vorübergehend nachbildend, eine
durchgreifende Energie. Aber was im richtigen Masze wieder
eine gute Eigenschaft jener Statsform ist, und aus dem na-
türlichen Instinct der Selbsterhaltung entspringt, das wird,
im Unmasz geübt, zu einem tödtlichen Fehler.

Diese Neigung und Fähigkeit der Erhaltung offenbart
sich auch in der natürlichen Tendenz der Aristokratie, die
Erblichkeit zu einem Grundprincip der Statseinrichtungen
zu machen. Diese Tendenz wird besonders in der Geschichte
des Mittelalters anschaulich, welches überall in Europa
einen aristokratischen Charakter zeigt. Selbst das deutsche

4 Vgl. Tocqueville über die englische Aristokratie. Oeuvres, tom. VIII.

Sechstes Buch. Die Statsformen.
die Ausbeutung und die despotische Unterdrückung der Hin-
dus
in Indien, der Neger auf Jamaica durch die eng-
lischen Statthalter
4 sind beredte Zeugnisse für diesen
Charakterzug.

Ist eine übermäszige Beweglichkeit und Veränderlichkeit
gewöhnlich mit der gebildeten Demokratie verbunden, so ist
umgekehrt eine übertriebene Zähigkeit und Unveränder-
lichkeit
der herkömmlichen Verhältnisse eine häufige Eigen-
schaft der Aristokratie. Die Demokratie, im Vorgefühl ihrer
Macht, vergiszt leicht, indem sie diese schrankenlos ausübt,
die Bedingungen ihrer Erhaltung. Die Aristokratie dagegen,
voller Sorgen für ihre unverkümmerte Erhaltung, geräth
nicht selten in den Irrthum: indem sie sich starr an das Alte
anklammere und jede Neuerung abwehre, werde sie ihre
Herrschaft am besten sichern. In der That versteht sie es
meistens besser als die Demokratie, sich selber zu con-
serviren
, und durchweg haben die Aristokratien einen
längeren Bestand gehabt als die Demokratien. Sie ver-
meidet die Statsexperimente, sie hat Scheu vor raschen
Sprüngen; in gemessenem Gang schreitet sie bedachtsam vor-
wärts, und entwickelt nur wenn wirkliche Gefahr droht, dann
zuweilen die Monarchie vorübergehend nachbildend, eine
durchgreifende Energie. Aber was im richtigen Masze wieder
eine gute Eigenschaft jener Statsform ist, und aus dem na-
türlichen Instinct der Selbsterhaltung entspringt, das wird,
im Unmasz geübt, zu einem tödtlichen Fehler.

Diese Neigung und Fähigkeit der Erhaltung offenbart
sich auch in der natürlichen Tendenz der Aristokratie, die
Erblichkeit zu einem Grundprincip der Statseinrichtungen
zu machen. Diese Tendenz wird besonders in der Geschichte
des Mittelalters anschaulich, welches überall in Europa
einen aristokratischen Charakter zeigt. Selbst das deutsche

4 Vgl. Tocqueville über die englische Aristokratie. Oeuvres, tom. VIII.
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[520/0538] Sechstes Buch. Die Statsformen. die Ausbeutung und die despotische Unterdrückung der Hin- dus in Indien, der Neger auf Jamaica durch die eng- lischen Statthalter 4 sind beredte Zeugnisse für diesen Charakterzug. Ist eine übermäszige Beweglichkeit und Veränderlichkeit gewöhnlich mit der gebildeten Demokratie verbunden, so ist umgekehrt eine übertriebene Zähigkeit und Unveränder- lichkeit der herkömmlichen Verhältnisse eine häufige Eigen- schaft der Aristokratie. Die Demokratie, im Vorgefühl ihrer Macht, vergiszt leicht, indem sie diese schrankenlos ausübt, die Bedingungen ihrer Erhaltung. Die Aristokratie dagegen, voller Sorgen für ihre unverkümmerte Erhaltung, geräth nicht selten in den Irrthum: indem sie sich starr an das Alte anklammere und jede Neuerung abwehre, werde sie ihre Herrschaft am besten sichern. In der That versteht sie es meistens besser als die Demokratie, sich selber zu con- serviren, und durchweg haben die Aristokratien einen längeren Bestand gehabt als die Demokratien. Sie ver- meidet die Statsexperimente, sie hat Scheu vor raschen Sprüngen; in gemessenem Gang schreitet sie bedachtsam vor- wärts, und entwickelt nur wenn wirkliche Gefahr droht, dann zuweilen die Monarchie vorübergehend nachbildend, eine durchgreifende Energie. Aber was im richtigen Masze wieder eine gute Eigenschaft jener Statsform ist, und aus dem na- türlichen Instinct der Selbsterhaltung entspringt, das wird, im Unmasz geübt, zu einem tödtlichen Fehler. Diese Neigung und Fähigkeit der Erhaltung offenbart sich auch in der natürlichen Tendenz der Aristokratie, die Erblichkeit zu einem Grundprincip der Statseinrichtungen zu machen. Diese Tendenz wird besonders in der Geschichte des Mittelalters anschaulich, welches überall in Europa einen aristokratischen Charakter zeigt. Selbst das deutsche 4 Vgl. Tocqueville über die englische Aristokratie. Oeuvres, tom. VIII.

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 520. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/538>, abgerufen am 24.11.2024.