Siebentes Capitel. Das moderne Princip der Sonderung der Gewalten.
Fast kindisch ist die Vorstellung von dem Verhältnisz der Statsgewalten zu nennen, welche in der gesetzgebenden Gewalt lediglich die Bestimmung der Regel, in der richter- lichen die Subsumtion des einzelnen Falles unter die Regel, in der vollziehenden endlich die Vollstreckung dieses Ur- theils sieht, und so den Statsorganismus wie einen bloszen logischen Syllogismus betrachtet.2 Alle Functionen der ver- schiedenen Gewalten wären so in jedem gerichtlichen Urtheile vereinigt, welches von allgemeinen Principien ausgeht, diese auf die vorgelegte Streitfrage anwendet, und endlich in Folge dessen das Erkenntnisz zum Schlusz bringt. Die Regierung aber hätte kaum eine andere Aufgabe, als die des Frohn- boten oder der Gendarmerie, welche das Urtheil der Gerichte vollzieht.
Voraus ist es nöthig, die gesetzgebende Gewalt auf der einen Seite allen übrigen Statsgewalten auf der andern gegenüber zu stellen. Alle andern Functionen gehören ein- zelnen Organen des Statskörpers zu, die Gesetzgebung allein dem ganzen Statskörper selbst. Die gesetzgebende Gewalt bestimmt die Stats- und Rechtsordnung selbst, und ist ihr höchster, das ganze Volk umfassender Ausdruck. Alle andern Gewalten dagegen üben ihre Functionen inner- halb der bestehenden Stats- und Rechtsordnung in einzelnen concreten und wechselnden Fällen aus. Die Gesetzgebung ordnet die dauernden Verhältnisse der Gesammtheit. Die übrigen Gewalten äusern ihre Thätigkeit regelmäszig nur in einzelnen, nicht das ganze Volk betreffenden Richtungen.
2Montesquieu XI, 6 hat sich das Verhältnisz doch anders ge- dacht. Er nennt auch die richterliche Gewalt eine "puissance executrice des choses, qui dependent du droit civil, und unterscheidet sie so ob- jectiv von der eigentlichen "puissance executrice des choses, qui de- pendent du droit des gens." Nach ihm aber haben andere, unter ihnen auch Kant (Rechtslehre, §. 45) und Spittler (Vorlesungen über Politik, §. 15), jene wunderliche Meinung angenommen. Vgl. dagegen Stahl, Lehre vom Stat II, §. 57.
Siebentes Capitel. Das moderne Princip der Sonderung der Gewalten.
Fast kindisch ist die Vorstellung von dem Verhältnisz der Statsgewalten zu nennen, welche in der gesetzgebenden Gewalt lediglich die Bestimmung der Regel, in der richter- lichen die Subsumtion des einzelnen Falles unter die Regel, in der vollziehenden endlich die Vollstreckung dieses Ur- theils sieht, und so den Statsorganismus wie einen bloszen logischen Syllogismus betrachtet.2 Alle Functionen der ver- schiedenen Gewalten wären so in jedem gerichtlichen Urtheile vereinigt, welches von allgemeinen Principien ausgeht, diese auf die vorgelegte Streitfrage anwendet, und endlich in Folge dessen das Erkenntnisz zum Schlusz bringt. Die Regierung aber hätte kaum eine andere Aufgabe, als die des Frohn- boten oder der Gendarmerie, welche das Urtheil der Gerichte vollzieht.
Voraus ist es nöthig, die gesetzgebende Gewalt auf der einen Seite allen übrigen Statsgewalten auf der andern gegenüber zu stellen. Alle andern Functionen gehören ein- zelnen Organen des Statskörpers zu, die Gesetzgebung allein dem ganzen Statskörper selbst. Die gesetzgebende Gewalt bestimmt die Stats- und Rechtsordnung selbst, und ist ihr höchster, das ganze Volk umfassender Ausdruck. Alle andern Gewalten dagegen üben ihre Functionen inner- halb der bestehenden Stats- und Rechtsordnung in einzelnen concreten und wechselnden Fällen aus. Die Gesetzgebung ordnet die dauernden Verhältnisse der Gesammtheit. Die übrigen Gewalten äusern ihre Thätigkeit regelmäszig nur in einzelnen, nicht das ganze Volk betreffenden Richtungen.
2Montesquieu XI, 6 hat sich das Verhältnisz doch anders ge- dacht. Er nennt auch die richterliche Gewalt eine „puissance exécutrice des choses, qui dépendent du droit civil, und unterscheidet sie so ob- jectiv von der eigentlichen „puissance exécutrice des choses, qui dé- pendent du droit des gens.“ Nach ihm aber haben andere, unter ihnen auch Kant (Rechtslehre, §. 45) und Spittler (Vorlesungen über Politik, §. 15), jene wunderliche Meinung angenommen. Vgl. dagegen Stahl, Lehre vom Stat II, §. 57.
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lichen die Subsumtion des einzelnen Falles unter die Regel,
in der vollziehenden endlich die Vollstreckung dieses Ur-
theils sieht, und so den Statsorganismus wie einen bloszen
logischen Syllogismus betrachtet. 2 Alle Functionen der ver-
schiedenen Gewalten wären so in jedem gerichtlichen Urtheile
vereinigt, welches von allgemeinen Principien ausgeht, diese
auf die vorgelegte Streitfrage anwendet, und endlich in Folge
dessen das Erkenntnisz zum Schlusz bringt. Die Regierung
aber hätte kaum eine andere Aufgabe, als die des Frohn-
boten oder der Gendarmerie, welche das Urtheil der Gerichte
vollzieht.
Voraus ist es nöthig, die gesetzgebende Gewalt auf
der einen Seite allen übrigen Statsgewalten auf der andern
gegenüber zu stellen. Alle andern Functionen gehören ein-
zelnen Organen des Statskörpers zu, die Gesetzgebung
allein dem ganzen Statskörper selbst. Die gesetzgebende
Gewalt bestimmt die Stats- und Rechtsordnung selbst,
und ist ihr höchster, das ganze Volk umfassender Ausdruck.
Alle andern Gewalten dagegen üben ihre Functionen inner-
halb der bestehenden Stats- und Rechtsordnung in einzelnen
concreten und wechselnden Fällen aus. Die Gesetzgebung
ordnet die dauernden Verhältnisse der Gesammtheit. Die
übrigen Gewalten äusern ihre Thätigkeit regelmäszig nur in
einzelnen, nicht das ganze Volk betreffenden Richtungen.
2 Montesquieu XI, 6 hat sich das Verhältnisz doch anders ge-
dacht. Er nennt auch die richterliche Gewalt eine „puissance exécutrice
des choses, qui dépendent du droit civil, und unterscheidet sie so ob-
jectiv von der eigentlichen „puissance exécutrice des choses, qui dé-
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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 591. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/609>, abgerufen am 22.11.2024.
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