Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

Bild:
<< vorherige Seite

Verletzungen des Völkerrechts und Verfahren zur Herstellung desselben.
innern, daß unsere Gefangenen nicht an jenem Unrecht schuld und überhaupt keine
Strafgefangenen sind. Eher tritt die Analogie der Kriegsgefangenschaft ein.

Zu g. Vgl. oben § 455.

501.

Die civilisirte moderne Völkersitte mißbilligt als barbarisch:

a) jede Grausamkeit gegen einzelne, zumal schuldlose Personen,
b) die statliche Ermächtigung von Privatpersonen, Angehörige des
gegnerischen Stats zu fangen oder zu tödten oder das Vermögen
derselben zu zerstören oder wegzunehmen.

1. Zu a. Auch wenn wilde Stämme unsere Statsgenossen grausam miß-
handeln, verstümmeln, tödten, so ist es dennoch der civilisirten Staten unwürdig,
ebenso barbarisch gegen Angehörige jener Stämme zu verfahren, welche in ihre Ge-
walt gerathen. Das Gesetz der Talion darf nicht bis zur Barbarei geübt wer-
den. Als solche ist auch die Hinrichtung nichtschuldiger Personen ange-
sehen. In dem Befreiungskriege der nordamerikanischen Colonien gegen England
kam noch ein solcher Fall vor. Der englische Hauptmann Lippencott ließ einen ge-
fangenen nordamerikanischen Officier hängen. Der englische General Clinton miß-
billigte das Verfahren und stellte seinen Untergebenen vor ein Kriegsgericht. Der
General Washington verlangte aber Auslieferung des Schuldigen und ließ, als diese
verweigert ward, zur Wiedervergeltung einen gefangenen englischen Officier, Namens
Argill, vor ein Kriegsgericht stellen und ebenfalls zum Tode verurtheilen. In-
dessen gelang es den Bemühungen, vorzüglich der Königin von Frankreich, den-
selben zu retten und eine Begnadigung des Congresses zu erwirken. Vgl. Philli-
more
III. 150 f.

2. Zu b. Im Mittelalter kamen solche Ermächtigungen öfter vor und wur-
den für erlaubt gehalten. Eine Form derselben, die Caperschiffe in Kriegszeiten,
wurde sogar bis in die neueste Zeit geübt. Siehe unten Buch VIII. Mit Recht
aber verwirft das heutige Völkerrecht alle solchen Privatacte der Gewalt. Es fehlt
dabei an jeder Garantie, daß die Selbsthülfe mit Maß geübt werde.

502.

Die Wahl und der Umfang der Repressalien richtet sich nach dem
gerügten Unrecht. Unverhältnißmäßige Repressalien sind widerrechtlich.

Die Repressalien lassen sich nur als eine Art Nothwehr vertheidigen, in
Ermanglung besserer Rechtshülfe. Eben deßhalb sind sie nach dem Grund-
satz einer gerechten Wiedervergeltung zu bestimmen und zu bemessen. Der Natur
der Dinge nach ist freilich eine genaue Maßbestimmung nicht wohl einzuhalten, aber
das Grundprincip der Verhältnißmäßigkeit darf doch niemals unbeachtet

Verletzungen des Völkerrechts und Verfahren zur Herſtellung desſelben.
innern, daß unſere Gefangenen nicht an jenem Unrecht ſchuld und überhaupt keine
Strafgefangenen ſind. Eher tritt die Analogie der Kriegsgefangenſchaft ein.

Zu g. Vgl. oben § 455.

501.

Die civiliſirte moderne Völkerſitte mißbilligt als barbariſch:

a) jede Grauſamkeit gegen einzelne, zumal ſchuldloſe Perſonen,
b) die ſtatliche Ermächtigung von Privatperſonen, Angehörige des
gegneriſchen Stats zu fangen oder zu tödten oder das Vermögen
derſelben zu zerſtören oder wegzunehmen.

1. Zu a. Auch wenn wilde Stämme unſere Statsgenoſſen grauſam miß-
handeln, verſtümmeln, tödten, ſo iſt es dennoch der civiliſirten Staten unwürdig,
ebenſo barbariſch gegen Angehörige jener Stämme zu verfahren, welche in ihre Ge-
walt gerathen. Das Geſetz der Talion darf nicht bis zur Barbarei geübt wer-
den. Als ſolche iſt auch die Hinrichtung nichtſchuldiger Perſonen ange-
ſehen. In dem Befreiungskriege der nordamerikaniſchen Colonien gegen England
kam noch ein ſolcher Fall vor. Der engliſche Hauptmann Lippencott ließ einen ge-
fangenen nordamerikaniſchen Officier hängen. Der engliſche General Clinton miß-
billigte das Verfahren und ſtellte ſeinen Untergebenen vor ein Kriegsgericht. Der
General Waſhington verlangte aber Auslieferung des Schuldigen und ließ, als dieſe
verweigert ward, zur Wiedervergeltung einen gefangenen engliſchen Officier, Namens
Argill, vor ein Kriegsgericht ſtellen und ebenfalls zum Tode verurtheilen. In-
deſſen gelang es den Bemühungen, vorzüglich der Königin von Frankreich, den-
ſelben zu retten und eine Begnadigung des Congreſſes zu erwirken. Vgl. Philli-
more
III. 150 f.

2. Zu b. Im Mittelalter kamen ſolche Ermächtigungen öfter vor und wur-
den für erlaubt gehalten. Eine Form derſelben, die Caperſchiffe in Kriegszeiten,
wurde ſogar bis in die neueſte Zeit geübt. Siehe unten Buch VIII. Mit Recht
aber verwirft das heutige Völkerrecht alle ſolchen Privatacte der Gewalt. Es fehlt
dabei an jeder Garantie, daß die Selbſthülfe mit Maß geübt werde.

502.

Die Wahl und der Umfang der Repreſſalien richtet ſich nach dem
gerügten Unrecht. Unverhältnißmäßige Repreſſalien ſind widerrechtlich.

Die Repreſſalien laſſen ſich nur als eine Art Nothwehr vertheidigen, in
Ermanglung beſſerer Rechtshülfe. Eben deßhalb ſind ſie nach dem Grund-
ſatz einer gerechten Wiedervergeltung zu beſtimmen und zu bemeſſen. Der Natur
der Dinge nach iſt freilich eine genaue Maßbeſtimmung nicht wohl einzuhalten, aber
das Grundprincip der Verhältnißmäßigkeit darf doch niemals unbeachtet

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0303" n="281"/><fw place="top" type="header">Verletzungen des Völkerrechts und Verfahren zur Her&#x017F;tellung des&#x017F;elben.</fw><lb/>
innern, daß un&#x017F;ere Gefangenen nicht an jenem Unrecht &#x017F;chuld und überhaupt keine<lb/>
Strafgefangenen &#x017F;ind. Eher tritt die Analogie der Kriegsgefangen&#x017F;chaft ein.</p><lb/>
              <p>Zu <hi rendition="#aq">g.</hi> Vgl. oben § 455.</p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>501.</head><lb/>
              <p>Die civili&#x017F;irte moderne Völker&#x017F;itte mißbilligt als barbari&#x017F;ch:</p><lb/>
              <list>
                <item><hi rendition="#aq">a)</hi> jede Grau&#x017F;amkeit gegen einzelne, zumal &#x017F;chuldlo&#x017F;e Per&#x017F;onen,</item><lb/>
                <item><hi rendition="#aq">b)</hi> die &#x017F;tatliche Ermächtigung von Privatper&#x017F;onen, Angehörige des<lb/>
gegneri&#x017F;chen Stats zu fangen oder zu tödten oder das Vermögen<lb/>
der&#x017F;elben zu zer&#x017F;tören oder wegzunehmen.</item>
              </list><lb/>
              <p>1. Zu <hi rendition="#aq">a.</hi> Auch wenn wilde Stämme un&#x017F;ere Statsgeno&#x017F;&#x017F;en grau&#x017F;am miß-<lb/>
handeln, ver&#x017F;tümmeln, tödten, &#x017F;o i&#x017F;t es dennoch der civili&#x017F;irten Staten unwürdig,<lb/>
eben&#x017F;o barbari&#x017F;ch gegen Angehörige jener Stämme zu verfahren, welche in ihre Ge-<lb/>
walt gerathen. Das Ge&#x017F;etz der <hi rendition="#g">Talion</hi> darf nicht bis zur <hi rendition="#g">Barbarei</hi> geübt wer-<lb/>
den. Als &#x017F;olche i&#x017F;t auch die <hi rendition="#g">Hinrichtung nicht&#x017F;chuldiger Per&#x017F;onen</hi> ange-<lb/>
&#x017F;ehen. In dem Befreiungskriege der nordamerikani&#x017F;chen Colonien gegen England<lb/>
kam noch ein &#x017F;olcher Fall vor. Der engli&#x017F;che Hauptmann Lippencott ließ einen ge-<lb/>
fangenen nordamerikani&#x017F;chen Officier hängen. Der engli&#x017F;che General Clinton miß-<lb/>
billigte das Verfahren und &#x017F;tellte &#x017F;einen Untergebenen vor ein Kriegsgericht. Der<lb/>
General Wa&#x017F;hington verlangte aber Auslieferung des Schuldigen und ließ, als die&#x017F;e<lb/>
verweigert ward, zur Wiedervergeltung einen gefangenen engli&#x017F;chen Officier, Namens<lb/><hi rendition="#g">Argill</hi>, vor ein Kriegsgericht &#x017F;tellen und ebenfalls zum Tode verurtheilen. In-<lb/>
de&#x017F;&#x017F;en gelang es den Bemühungen, vorzüglich der Königin von Frankreich, den-<lb/>
&#x017F;elben zu retten und eine Begnadigung des Congre&#x017F;&#x017F;es zu erwirken. Vgl. <hi rendition="#g">Philli-<lb/>
more</hi> <hi rendition="#aq">III.</hi> 150 f.</p><lb/>
              <p>2. Zu <hi rendition="#aq">b.</hi> Im Mittelalter kamen &#x017F;olche Ermächtigungen öfter vor und wur-<lb/>
den für erlaubt gehalten. Eine Form der&#x017F;elben, die <hi rendition="#g">Caper&#x017F;chiffe</hi> in Kriegszeiten,<lb/>
wurde &#x017F;ogar bis in die neue&#x017F;te Zeit geübt. Siehe unten Buch <hi rendition="#aq">VIII.</hi> Mit Recht<lb/>
aber verwirft das heutige Völkerrecht alle &#x017F;olchen Privatacte der Gewalt. Es fehlt<lb/>
dabei an jeder Garantie, daß die Selb&#x017F;thülfe mit Maß geübt werde.</p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>502.</head><lb/>
              <p>Die Wahl und der Umfang der Repre&#x017F;&#x017F;alien richtet &#x017F;ich nach dem<lb/>
gerügten Unrecht. Unverhältnißmäßige Repre&#x017F;&#x017F;alien &#x017F;ind widerrechtlich.</p><lb/>
              <p>Die Repre&#x017F;&#x017F;alien la&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ich nur als eine Art <hi rendition="#g">Nothwehr</hi> vertheidigen, in<lb/><hi rendition="#g">Ermanglung be&#x017F;&#x017F;erer Rechtshülfe</hi>. Eben deßhalb &#x017F;ind &#x017F;ie nach dem Grund-<lb/>
&#x017F;atz einer gerechten Wiedervergeltung zu be&#x017F;timmen und zu beme&#x017F;&#x017F;en. Der Natur<lb/>
der Dinge nach i&#x017F;t freilich eine genaue Maßbe&#x017F;timmung nicht wohl einzuhalten, aber<lb/>
das Grundprincip der <hi rendition="#g">Verhältnißmäßigkeit</hi> darf doch niemals unbeachtet<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[281/0303] Verletzungen des Völkerrechts und Verfahren zur Herſtellung desſelben. innern, daß unſere Gefangenen nicht an jenem Unrecht ſchuld und überhaupt keine Strafgefangenen ſind. Eher tritt die Analogie der Kriegsgefangenſchaft ein. Zu g. Vgl. oben § 455. 501. Die civiliſirte moderne Völkerſitte mißbilligt als barbariſch: a) jede Grauſamkeit gegen einzelne, zumal ſchuldloſe Perſonen, b) die ſtatliche Ermächtigung von Privatperſonen, Angehörige des gegneriſchen Stats zu fangen oder zu tödten oder das Vermögen derſelben zu zerſtören oder wegzunehmen. 1. Zu a. Auch wenn wilde Stämme unſere Statsgenoſſen grauſam miß- handeln, verſtümmeln, tödten, ſo iſt es dennoch der civiliſirten Staten unwürdig, ebenſo barbariſch gegen Angehörige jener Stämme zu verfahren, welche in ihre Ge- walt gerathen. Das Geſetz der Talion darf nicht bis zur Barbarei geübt wer- den. Als ſolche iſt auch die Hinrichtung nichtſchuldiger Perſonen ange- ſehen. In dem Befreiungskriege der nordamerikaniſchen Colonien gegen England kam noch ein ſolcher Fall vor. Der engliſche Hauptmann Lippencott ließ einen ge- fangenen nordamerikaniſchen Officier hängen. Der engliſche General Clinton miß- billigte das Verfahren und ſtellte ſeinen Untergebenen vor ein Kriegsgericht. Der General Waſhington verlangte aber Auslieferung des Schuldigen und ließ, als dieſe verweigert ward, zur Wiedervergeltung einen gefangenen engliſchen Officier, Namens Argill, vor ein Kriegsgericht ſtellen und ebenfalls zum Tode verurtheilen. In- deſſen gelang es den Bemühungen, vorzüglich der Königin von Frankreich, den- ſelben zu retten und eine Begnadigung des Congreſſes zu erwirken. Vgl. Philli- more III. 150 f. 2. Zu b. Im Mittelalter kamen ſolche Ermächtigungen öfter vor und wur- den für erlaubt gehalten. Eine Form derſelben, die Caperſchiffe in Kriegszeiten, wurde ſogar bis in die neueſte Zeit geübt. Siehe unten Buch VIII. Mit Recht aber verwirft das heutige Völkerrecht alle ſolchen Privatacte der Gewalt. Es fehlt dabei an jeder Garantie, daß die Selbſthülfe mit Maß geübt werde. 502. Die Wahl und der Umfang der Repreſſalien richtet ſich nach dem gerügten Unrecht. Unverhältnißmäßige Repreſſalien ſind widerrechtlich. Die Repreſſalien laſſen ſich nur als eine Art Nothwehr vertheidigen, in Ermanglung beſſerer Rechtshülfe. Eben deßhalb ſind ſie nach dem Grund- ſatz einer gerechten Wiedervergeltung zu beſtimmen und zu bemeſſen. Der Natur der Dinge nach iſt freilich eine genaue Maßbeſtimmung nicht wohl einzuhalten, aber das Grundprincip der Verhältnißmäßigkeit darf doch niemals unbeachtet

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/303
Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 281. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/303>, abgerufen am 24.11.2024.