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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

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Das Kriegsrecht.
Rechtsgefühl aller civilisirten Völker tief verletzen und beleidigen, während jene
nur einem bestimmten State gegenüber verübt werden und nur dessen
Statsordnung betreffen. Dieselbe Handlung kann daher in einem State schwere
Strafe verdienen, und von den benachbarten Völkern als eine rühmliche That geprie-
sen werden. Auch in der modernen Kriegsführung kommt es oft vor, daß die sym-
pathisch gesinnte Partei in Feindesland oder eine unterdrückte Bevölkerung, welche
man durch den Krieg befreien will, zum Aufstand angeregt, daß Zuzüger aus dem
Feindesland unter die Truppen aufgenommen werden, welche dasselbe einnehmen
sollen, daß mit einem Prätendenten, der Ansprüche auf die Regierung im Feindes-
land erhebt, Verbindungen angeknüpft und in der Absicht unterhalten werden, die
feindliche Regierung im Innern ihres Landes in Gefahr zu bringen. Keine einzige
europäische oder amerikanische Kriegsmacht hat sich solcher Mittel enthalten, wenn sie
sich ihr darboten und für die Kriegsführung nützlich erschienen. Sowohl die Re-
volutions
- als die Restaurationspolitik hat sich derselben bedient; aber auch
die neueste Befreiungs- und Nationalitätspolitik in Italien und Deutsch-
land hat dieselben nicht verschmäht. Die politischen Rücksichten sind in
dieser Beziehung so entscheidend, daß die strafrechtlichen in den Hinter-
grund treten
.

2. Dagegen wird die Aufreizung der feindlichen Officiere und Soldaten zur
Desertion oder zum Verrath -- wenigstens in der Regel -- für ein unerlaubtes
Kriegsmittel angesehen, weil hier auch das allgemeine Interesse aller Staten an der
Aufrechthaltung der militärischen Ordnung und Disciplin so überwiegend
erscheint, daß die politischen Rücksichten eine derartige Störung nur selten zu ent-
schuldigen vermögen.

565.

Die List ist im Kriege erlaubt und daher auch die Täuschung des
Feindes nicht völkerrechtswidrig, sogar nicht die Täuschung durch Uni-
formen, Fahnen und Flaggen. Vor dem wirklichen Zusammenstoß aber
muß jeder Heereskörper unter seiner wahren Fahne und Flagge erscheinen
und darf nur als offenbarer Feind fechten.

Im Kriege kämpfen Gewalt und List bald gemeinsam, bald wider ein-
ander. Es ist erlaubt, den Feind über die Stärke und die Bewegungen des Heeres
zu täuschen, z. B. indem man durch Anzünden zahlreicher Wachfeuer die Anwesenheit
eines starken Truppenkörpers glaublich macht, während die Truppen bereits abgezogen
sind, oder indem ein geringes Streifcorps bald da, bald dort erscheint und die Mei-
nung verbreitet, es seien zahlreiche Truppen in der Nähe. Ebenso kann der Feind
durch eine scheinbare Flucht in einen Hinterhalt gelockt und da überfallen werden.
Die List dient dazu, die physische Ueberlegenheit des Feindes durch ein geistiges
Gegengewicht zu vermindern oder zu überwinden. Bedenklich ist allerdings die Be-
nutzung der Kennzeichen des feindlichen Heeres -- Uniformen, Fahnen,

Das Kriegsrecht.
Rechtsgefühl aller civiliſirten Völker tief verletzen und beleidigen, während jene
nur einem beſtimmten State gegenüber verübt werden und nur deſſen
Statsordnung betreffen. Dieſelbe Handlung kann daher in einem State ſchwere
Strafe verdienen, und von den benachbarten Völkern als eine rühmliche That geprie-
ſen werden. Auch in der modernen Kriegsführung kommt es oft vor, daß die ſym-
pathiſch geſinnte Partei in Feindesland oder eine unterdrückte Bevölkerung, welche
man durch den Krieg befreien will, zum Aufſtand angeregt, daß Zuzüger aus dem
Feindesland unter die Truppen aufgenommen werden, welche dasſelbe einnehmen
ſollen, daß mit einem Prätendenten, der Anſprüche auf die Regierung im Feindes-
land erhebt, Verbindungen angeknüpft und in der Abſicht unterhalten werden, die
feindliche Regierung im Innern ihres Landes in Gefahr zu bringen. Keine einzige
europäiſche oder amerikaniſche Kriegsmacht hat ſich ſolcher Mittel enthalten, wenn ſie
ſich ihr darboten und für die Kriegsführung nützlich erſchienen. Sowohl die Re-
volutions
- als die Reſtaurationspolitik hat ſich derſelben bedient; aber auch
die neueſte Befreiungs- und Nationalitätspolitik in Italien und Deutſch-
land hat dieſelben nicht verſchmäht. Die politiſchen Rückſichten ſind in
dieſer Beziehung ſo entſcheidend, daß die ſtrafrechtlichen in den Hinter-
grund treten
.

2. Dagegen wird die Aufreizung der feindlichen Officiere und Soldaten zur
Deſertion oder zum Verrath — wenigſtens in der Regel — für ein unerlaubtes
Kriegsmittel angeſehen, weil hier auch das allgemeine Intereſſe aller Staten an der
Aufrechthaltung der militäriſchen Ordnung und Disciplin ſo überwiegend
erſcheint, daß die politiſchen Rückſichten eine derartige Störung nur ſelten zu ent-
ſchuldigen vermögen.

565.

Die Liſt iſt im Kriege erlaubt und daher auch die Täuſchung des
Feindes nicht völkerrechtswidrig, ſogar nicht die Täuſchung durch Uni-
formen, Fahnen und Flaggen. Vor dem wirklichen Zuſammenſtoß aber
muß jeder Heereskörper unter ſeiner wahren Fahne und Flagge erſcheinen
und darf nur als offenbarer Feind fechten.

Im Kriege kämpfen Gewalt und Liſt bald gemeinſam, bald wider ein-
ander. Es iſt erlaubt, den Feind über die Stärke und die Bewegungen des Heeres
zu täuſchen, z. B. indem man durch Anzünden zahlreicher Wachfeuer die Anweſenheit
eines ſtarken Truppenkörpers glaublich macht, während die Truppen bereits abgezogen
ſind, oder indem ein geringes Streifcorps bald da, bald dort erſcheint und die Mei-
nung verbreitet, es ſeien zahlreiche Truppen in der Nähe. Ebenſo kann der Feind
durch eine ſcheinbare Flucht in einen Hinterhalt gelockt und da überfallen werden.
Die Liſt dient dazu, die phyſiſche Ueberlegenheit des Feindes durch ein geiſtiges
Gegengewicht zu vermindern oder zu überwinden. Bedenklich iſt allerdings die Be-
nutzung der Kennzeichen des feindlichen Heeres — Uniformen, Fahnen,

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[315/0337] Das Kriegsrecht. Rechtsgefühl aller civiliſirten Völker tief verletzen und beleidigen, während jene nur einem beſtimmten State gegenüber verübt werden und nur deſſen Statsordnung betreffen. Dieſelbe Handlung kann daher in einem State ſchwere Strafe verdienen, und von den benachbarten Völkern als eine rühmliche That geprie- ſen werden. Auch in der modernen Kriegsführung kommt es oft vor, daß die ſym- pathiſch geſinnte Partei in Feindesland oder eine unterdrückte Bevölkerung, welche man durch den Krieg befreien will, zum Aufſtand angeregt, daß Zuzüger aus dem Feindesland unter die Truppen aufgenommen werden, welche dasſelbe einnehmen ſollen, daß mit einem Prätendenten, der Anſprüche auf die Regierung im Feindes- land erhebt, Verbindungen angeknüpft und in der Abſicht unterhalten werden, die feindliche Regierung im Innern ihres Landes in Gefahr zu bringen. Keine einzige europäiſche oder amerikaniſche Kriegsmacht hat ſich ſolcher Mittel enthalten, wenn ſie ſich ihr darboten und für die Kriegsführung nützlich erſchienen. Sowohl die Re- volutions- als die Reſtaurationspolitik hat ſich derſelben bedient; aber auch die neueſte Befreiungs- und Nationalitätspolitik in Italien und Deutſch- land hat dieſelben nicht verſchmäht. Die politiſchen Rückſichten ſind in dieſer Beziehung ſo entſcheidend, daß die ſtrafrechtlichen in den Hinter- grund treten. 2. Dagegen wird die Aufreizung der feindlichen Officiere und Soldaten zur Deſertion oder zum Verrath — wenigſtens in der Regel — für ein unerlaubtes Kriegsmittel angeſehen, weil hier auch das allgemeine Intereſſe aller Staten an der Aufrechthaltung der militäriſchen Ordnung und Disciplin ſo überwiegend erſcheint, daß die politiſchen Rückſichten eine derartige Störung nur ſelten zu ent- ſchuldigen vermögen. 565. Die Liſt iſt im Kriege erlaubt und daher auch die Täuſchung des Feindes nicht völkerrechtswidrig, ſogar nicht die Täuſchung durch Uni- formen, Fahnen und Flaggen. Vor dem wirklichen Zuſammenſtoß aber muß jeder Heereskörper unter ſeiner wahren Fahne und Flagge erſcheinen und darf nur als offenbarer Feind fechten. Im Kriege kämpfen Gewalt und Liſt bald gemeinſam, bald wider ein- ander. Es iſt erlaubt, den Feind über die Stärke und die Bewegungen des Heeres zu täuſchen, z. B. indem man durch Anzünden zahlreicher Wachfeuer die Anweſenheit eines ſtarken Truppenkörpers glaublich macht, während die Truppen bereits abgezogen ſind, oder indem ein geringes Streifcorps bald da, bald dort erſcheint und die Mei- nung verbreitet, es ſeien zahlreiche Truppen in der Nähe. Ebenſo kann der Feind durch eine ſcheinbare Flucht in einen Hinterhalt gelockt und da überfallen werden. Die Liſt dient dazu, die phyſiſche Ueberlegenheit des Feindes durch ein geiſtiges Gegengewicht zu vermindern oder zu überwinden. Bedenklich iſt allerdings die Be- nutzung der Kennzeichen des feindlichen Heeres — Uniformen, Fahnen,

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 315. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/337>, abgerufen am 24.11.2024.