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[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften. Bd. 1. Zürich, 1741.

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Versuch von den Eigenschaften
geschwohrnen Reimen die man stets erwartet.

Ein Dichter führt uns stets durch die smaragdnen Felder.
Wohin? Jch weiß es schon. Jn dikbelaubte Wälder;
Da sucht sein Coridon im Schatten seine Ruh,
Und schleußt (bald thu ichs auch) die müden Augen zu.

Die lezte und einige Strophe ist hinten mit ei-
nem verstandlosen Zeuge geschmükt, welches sie
einen Gedanken nennen; und endet sich mit ei-
nem unnöthigen Alexandriner, der wie eine ver-
wundete Schlange seinen langgestrekten Cörper
nachschleppet. Lasset solche ihre eigene dumme
Reimen austhönen, und lernet ihr, eine männ-
liche Anmuth von einer kraftlosen Weichlich-
keit wohl unterscheiden. Preiset den ungezwun-
genen Nachdruck einer Zeile, worinnen Den-
hams Stärke und Wallers Lieblichkeit sich verei-
nigen. Eine leichtfliessende Schreibart kommt
nicht von ungefehr; sie wird durch Kunst erwor-
ben, wie diejenige sich am fertigsten bewegen,
welche tanzen gelernt haben. Es ist aber nicht
genug, daß keine Härtigkeit das Ohr beleidige.
Der Vers muß auch ein Echo des Verstandes seyn.

Der Weste Säuseln soll im Liede wiederhallen,
Und eine sanfte Fluth in sanften Thönen wallen,
Doch wenn sie tobt und braust, so stell' es unsrem Ohr
Ein Sturm im Verse selbst mit Lerm und Prasseln vor.

Wenn Ajax sich mühsam bearbeitet, eine Fel-
senlast umzuwelzen; so soll die Rede sich mit
bemühen; die Worte seyen langsam, arbei-
tend. Aber nicht so, wenn die Flügel-schnel-
le Camilla über ein Saatfeld daher fleugt, und
kaum die sich nicht biegenden Aehren mit flüchti-

gem

Verſuch von den Eigenſchaften
geſchwohrnen Reimen die man ſtets erwartet.

Ein Dichter fuͤhrt uns ſtets durch die ſmaragdnen Felder.
Wohin? Jch weiß es ſchon. Jn dikbelaubte Waͤlder;
Da ſucht ſein Coridon im Schatten ſeine Ruh,
Und ſchleußt (bald thu ichs auch) die muͤden Augen zu.

Die lezte und einige Strophe iſt hinten mit ei-
nem verſtandloſen Zeuge geſchmuͤkt, welches ſie
einen Gedanken nennen; und endet ſich mit ei-
nem unnoͤthigen Alexandriner, der wie eine ver-
wundete Schlange ſeinen langgeſtrekten Coͤrper
nachſchleppet. Laſſet ſolche ihre eigene dumme
Reimen austhoͤnen, und lernet ihr, eine maͤnn-
liche Anmuth von einer kraftloſen Weichlich-
keit wohl unterſcheiden. Preiſet den ungezwun-
genen Nachdruck einer Zeile, worinnen Den-
hams Staͤrke und Wallers Lieblichkeit ſich verei-
nigen. Eine leichtflieſſende Schreibart kommt
nicht von ungefehr; ſie wird durch Kunſt erwor-
ben, wie diejenige ſich am fertigſten bewegen,
welche tanzen gelernt haben. Es iſt aber nicht
genug, daß keine Haͤrtigkeit das Ohr beleidige.
Der Vers muß auch ein Echo des Verſtandes ſeyn.

Der Weſte Saͤuſeln ſoll im Liede wiederhallen,
Und eine ſanfte Fluth in ſanften Thoͤnen wallen,
Doch wenn ſie tobt und brauſt, ſo ſtell’ es unſrem Ohr
Ein Sturm im Verſe ſelbſt mit Lerm und Praſſeln vor.

Wenn Ajax ſich muͤhſam bearbeitet, eine Fel-
ſenlaſt umzuwelzen; ſo ſoll die Rede ſich mit
bemuͤhen; die Worte ſeyen langſam, arbei-
tend. Aber nicht ſo, wenn die Fluͤgel-ſchnel-
le Camilla uͤber ein Saatfeld daher fleugt, und
kaum die ſich nicht biegenden Aehren mit fluͤchti-

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[68/0084] Verſuch von den Eigenſchaften geſchwohrnen Reimen die man ſtets erwartet. Ein Dichter fuͤhrt uns ſtets durch die ſmaragdnen Felder. Wohin? Jch weiß es ſchon. Jn dikbelaubte Waͤlder; Da ſucht ſein Coridon im Schatten ſeine Ruh, Und ſchleußt (bald thu ichs auch) die muͤden Augen zu. Die lezte und einige Strophe iſt hinten mit ei- nem verſtandloſen Zeuge geſchmuͤkt, welches ſie einen Gedanken nennen; und endet ſich mit ei- nem unnoͤthigen Alexandriner, der wie eine ver- wundete Schlange ſeinen langgeſtrekten Coͤrper nachſchleppet. Laſſet ſolche ihre eigene dumme Reimen austhoͤnen, und lernet ihr, eine maͤnn- liche Anmuth von einer kraftloſen Weichlich- keit wohl unterſcheiden. Preiſet den ungezwun- genen Nachdruck einer Zeile, worinnen Den- hams Staͤrke und Wallers Lieblichkeit ſich verei- nigen. Eine leichtflieſſende Schreibart kommt nicht von ungefehr; ſie wird durch Kunſt erwor- ben, wie diejenige ſich am fertigſten bewegen, welche tanzen gelernt haben. Es iſt aber nicht genug, daß keine Haͤrtigkeit das Ohr beleidige. Der Vers muß auch ein Echo des Verſtandes ſeyn. Der Weſte Saͤuſeln ſoll im Liede wiederhallen, Und eine ſanfte Fluth in ſanften Thoͤnen wallen, Doch wenn ſie tobt und brauſt, ſo ſtell’ es unſrem Ohr Ein Sturm im Verſe ſelbſt mit Lerm und Praſſeln vor. Wenn Ajax ſich muͤhſam bearbeitet, eine Fel- ſenlaſt umzuwelzen; ſo ſoll die Rede ſich mit bemuͤhen; die Worte ſeyen langſam, arbei- tend. Aber nicht ſo, wenn die Fluͤgel-ſchnel- le Camilla uͤber ein Saatfeld daher fleugt, und kaum die ſich nicht biegenden Aehren mit fluͤchti- gem

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Zitationshilfe: [Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften. Bd. 1. Zürich, 1741, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung01_1741/84>, abgerufen am 21.11.2024.