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[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften. Bd. 1. Zürich, 1741.

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eines Kunstrichters.
gem Fusse nur oben bestreift. Höre die verander-
lichen Thöne des Timotheus, wie sie uns rühren,
wie sie den Regungen gebieten, wechselweise zu
steigen und zu fallen. (m) Man schauet den
Sohn des Lybischen Jupiters nach jeder Tonver-
änderung bald brennend von Ruhmbegierde,
bald weich von Liebe. Aus seinen wilden Bliken
funkeln jzt Wuth und Rasen, und jzt bricht er
in Seufzer aus, und zerschmelzt in Thränen.
Perser und Griechen finden gleiche Regungen bey
sich, und den Weltbezwinger bezwingen die Thö-
ne. Noch jzo müssen alle Herzen die Macht der
Musik bekennen, und was einst ein Timotheus
war, ist jzt ein Dryden.

Fallet niemals aufs äusserste und vermeidet den
Fehler derjenigen Köpfe, denen alles zu viel oder
zu wenig gefällt. Haltet nicht alle Kleinigkeiten
für würdig euch darüber zu ärgern. Dergleichen
zeiget allezeit einen mächtigen Stoltz oder geringe
Vernunft an. Solche Köpfe sind, gleich den
Mägen, gewiß nicht die besten, die über alles
ekeln und nichts verdäuen können. Aber laßt auch
nicht jeden lebhaften Einfall euch sogleich entzüken.
Denn ein Thor bewundert zu leicht, wo ein Ver-
nünftiger nur beyfällt. Wie Dinge uns groß
vorkommen, die wir durch einen Nebel ansehen,
so ist auch die Dummheit immer geschikt zum ver-
grössern.

Einige verachten die französischen Scribenten,
andere unsere eigene. Von diesem werden nur die

alten,
(m) Alexander's Feast or the power of Musick; An
Ode by Mr. Dryden.
E 3

eines Kunſtrichters.
gem Fuſſe nur oben beſtreift. Hoͤre die verander-
lichen Thoͤne des Timotheus, wie ſie uns ruͤhren,
wie ſie den Regungen gebieten, wechſelweiſe zu
ſteigen und zu fallen. (m) Man ſchauet den
Sohn des Lybiſchen Jupiters nach jeder Tonver-
aͤnderung bald brennend von Ruhmbegierde,
bald weich von Liebe. Aus ſeinen wilden Bliken
funkeln jzt Wuth und Raſen, und jzt bricht er
in Seufzer aus, und zerſchmelzt in Thraͤnen.
Perſer und Griechen finden gleiche Regungen bey
ſich, und den Weltbezwinger bezwingen die Thoͤ-
ne. Noch jzo muͤſſen alle Herzen die Macht der
Muſik bekennen, und was einſt ein Timotheus
war, iſt jzt ein Dryden.

Fallet niemals aufs aͤuſſerſte und vermeidet den
Fehler derjenigen Koͤpfe, denen alles zu viel oder
zu wenig gefaͤllt. Haltet nicht alle Kleinigkeiten
fuͤr wuͤrdig euch daruͤber zu aͤrgern. Dergleichen
zeiget allezeit einen maͤchtigen Stoltz oder geringe
Vernunft an. Solche Koͤpfe ſind, gleich den
Maͤgen, gewiß nicht die beſten, die uͤber alles
ekeln und nichts verdaͤuen koͤnnen. Aber laßt auch
nicht jeden lebhaften Einfall euch ſogleich entzuͤken.
Denn ein Thor bewundert zu leicht, wo ein Ver-
nuͤnftiger nur beyfaͤllt. Wie Dinge uns groß
vorkommen, die wir durch einen Nebel anſehen,
ſo iſt auch die Dummheit immer geſchikt zum ver-
groͤſſern.

Einige verachten die franzoͤſiſchen Scribenten,
andere unſere eigene. Von dieſem werden nur die

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[69/0085] eines Kunſtrichters. gem Fuſſe nur oben beſtreift. Hoͤre die verander- lichen Thoͤne des Timotheus, wie ſie uns ruͤhren, wie ſie den Regungen gebieten, wechſelweiſe zu ſteigen und zu fallen. (m) Man ſchauet den Sohn des Lybiſchen Jupiters nach jeder Tonver- aͤnderung bald brennend von Ruhmbegierde, bald weich von Liebe. Aus ſeinen wilden Bliken funkeln jzt Wuth und Raſen, und jzt bricht er in Seufzer aus, und zerſchmelzt in Thraͤnen. Perſer und Griechen finden gleiche Regungen bey ſich, und den Weltbezwinger bezwingen die Thoͤ- ne. Noch jzo muͤſſen alle Herzen die Macht der Muſik bekennen, und was einſt ein Timotheus war, iſt jzt ein Dryden. Fallet niemals aufs aͤuſſerſte und vermeidet den Fehler derjenigen Koͤpfe, denen alles zu viel oder zu wenig gefaͤllt. Haltet nicht alle Kleinigkeiten fuͤr wuͤrdig euch daruͤber zu aͤrgern. Dergleichen zeiget allezeit einen maͤchtigen Stoltz oder geringe Vernunft an. Solche Koͤpfe ſind, gleich den Maͤgen, gewiß nicht die beſten, die uͤber alles ekeln und nichts verdaͤuen koͤnnen. Aber laßt auch nicht jeden lebhaften Einfall euch ſogleich entzuͤken. Denn ein Thor bewundert zu leicht, wo ein Ver- nuͤnftiger nur beyfaͤllt. Wie Dinge uns groß vorkommen, die wir durch einen Nebel anſehen, ſo iſt auch die Dummheit immer geſchikt zum ver- groͤſſern. Einige verachten die franzoͤſiſchen Scribenten, andere unſere eigene. Von dieſem werden nur die alten, (m) Alexander’s Feast or the power of Muſick; An Ode by Mr. Dryden. E 3

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Zitationshilfe: [Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften. Bd. 1. Zürich, 1741, S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung01_1741/85>, abgerufen am 21.11.2024.