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[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften. Bd. 1. Zürich, 1741.

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Versuch von den Eigenschaften
alten, von jenem die neuen hochgeschäzt. So
pflegt ein jeder den Wiz, wie den Glauben, nur
einer einigen kleinen Secte zuzueignen, und alle
ausser ihr zu verdammen. Wie enge wollen die-
se die Seeligkeit einschränken und eine Sonne zwin-
gen, daß sie nur an einem Ort hinscheine, die
doch allgemein ist, sie sublimiert nicht nur den
Wiz in warmen Sud-sondern zeitiget auch Gei-
ster in den kalten Nordländern. Wie sie von
Anfang her die verlauffenen Alter beschienen, so be-
leuchtet sie noch das gegenwärtige, und wird einst
das lezte erwärmen, obwohl ein jedes Ab- und Zu-
nahme kennet, und bald hellerer bald trüberer
Tage gewahr wird. So fraget denn nicht, ob
etwas geistreiches alt oder neu sey; sondern tadelt
das schlimme und schäzet das gute beständig.

Einige urtheilen niemals aus sich selbsten. Sie
fangen die gemeinen Gassen-Urtheile auf und sind
ewige Folger in ihren Schlüssen. Sie eignen sich
einen alten sinnlosen Ausspruch zu, den sie selbst
niemalen erfunden haben. Andere urtheilen nach
dem Namen des Scribenten, und nicht nach sei-
nem Werke. Der Mann ists und nicht die
Schrift, die sie rühmen oder tadeln. Aber unter
dieser knechtischen Heerde ist der ärgste, der in
seinem dummen Hochmuth sich mit Standes-Per-
sonen gesellet. Er gibt einen geschwornen Kunst-
richter an der Tafel eines Grossen ab, der dem
gnädigen Herren sinnlose Schriften zubringen
und austragen muß. Für was für ein elendes
Zeug würde nicht dieses Madrigal gehalten wer-
den, wenn es einen hungrigen Lohn-Reimen-

schmied

Verſuch von den Eigenſchaften
alten, von jenem die neuen hochgeſchaͤzt. So
pflegt ein jeder den Wiz, wie den Glauben, nur
einer einigen kleinen Secte zuzueignen, und alle
auſſer ihr zu verdammen. Wie enge wollen die-
ſe die Seeligkeit einſchraͤnken und eine Sonne zwin-
gen, daß ſie nur an einem Ort hinſcheine, die
doch allgemein iſt, ſie ſublimiert nicht nur den
Wiz in warmen Sud-ſondern zeitiget auch Gei-
ſter in den kalten Nordlaͤndern. Wie ſie von
Anfang her die verlauffenen Alter beſchienen, ſo be-
leuchtet ſie noch das gegenwaͤrtige, und wird einſt
das lezte erwaͤrmen, obwohl ein jedes Ab- und Zu-
nahme kennet, und bald hellerer bald truͤberer
Tage gewahr wird. So fraget denn nicht, ob
etwas geiſtreiches alt oder neu ſey; ſondern tadelt
das ſchlimme und ſchaͤzet das gute beſtaͤndig.

Einige urtheilen niemals aus ſich ſelbſten. Sie
fangen die gemeinen Gaſſen-Urtheile auf und ſind
ewige Folger in ihren Schluͤſſen. Sie eignen ſich
einen alten ſinnloſen Ausſpruch zu, den ſie ſelbſt
niemalen erfunden haben. Andere urtheilen nach
dem Namen des Scribenten, und nicht nach ſei-
nem Werke. Der Mann iſts und nicht die
Schrift, die ſie ruͤhmen oder tadeln. Aber unter
dieſer knechtiſchen Heerde iſt der aͤrgſte, der in
ſeinem dummen Hochmuth ſich mit Standes-Per-
ſonen geſellet. Er gibt einen geſchwornen Kunſt-
richter an der Tafel eines Groſſen ab, der dem
gnaͤdigen Herren ſinnloſe Schriften zubringen
und austragen muß. Fuͤr was fuͤr ein elendes
Zeug wuͤrde nicht dieſes Madrigal gehalten wer-
den, wenn es einen hungrigen Lohn-Reimen-

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[70/0086] Verſuch von den Eigenſchaften alten, von jenem die neuen hochgeſchaͤzt. So pflegt ein jeder den Wiz, wie den Glauben, nur einer einigen kleinen Secte zuzueignen, und alle auſſer ihr zu verdammen. Wie enge wollen die- ſe die Seeligkeit einſchraͤnken und eine Sonne zwin- gen, daß ſie nur an einem Ort hinſcheine, die doch allgemein iſt, ſie ſublimiert nicht nur den Wiz in warmen Sud-ſondern zeitiget auch Gei- ſter in den kalten Nordlaͤndern. Wie ſie von Anfang her die verlauffenen Alter beſchienen, ſo be- leuchtet ſie noch das gegenwaͤrtige, und wird einſt das lezte erwaͤrmen, obwohl ein jedes Ab- und Zu- nahme kennet, und bald hellerer bald truͤberer Tage gewahr wird. So fraget denn nicht, ob etwas geiſtreiches alt oder neu ſey; ſondern tadelt das ſchlimme und ſchaͤzet das gute beſtaͤndig. Einige urtheilen niemals aus ſich ſelbſten. Sie fangen die gemeinen Gaſſen-Urtheile auf und ſind ewige Folger in ihren Schluͤſſen. Sie eignen ſich einen alten ſinnloſen Ausſpruch zu, den ſie ſelbſt niemalen erfunden haben. Andere urtheilen nach dem Namen des Scribenten, und nicht nach ſei- nem Werke. Der Mann iſts und nicht die Schrift, die ſie ruͤhmen oder tadeln. Aber unter dieſer knechtiſchen Heerde iſt der aͤrgſte, der in ſeinem dummen Hochmuth ſich mit Standes-Per- ſonen geſellet. Er gibt einen geſchwornen Kunſt- richter an der Tafel eines Groſſen ab, der dem gnaͤdigen Herren ſinnloſe Schriften zubringen und austragen muß. Fuͤr was fuͤr ein elendes Zeug wuͤrde nicht dieſes Madrigal gehalten wer- den, wenn es einen hungrigen Lohn-Reimen- ſchmied

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Zitationshilfe: [Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften. Bd. 1. Zürich, 1741, S. 70. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung01_1741/86>, abgerufen am 21.11.2024.