Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 9. Zürich, 1749.

Bild:
<< vorherige Seite
von Horazens Dichtkunst.
So leicht ist es geschehn, auch wenn man sich bemüht
Von Fehlern frey zu seyn, daß sich der Kiel versieht.
Man läßt ein Fechterspiel aus dichtem Erzte giessen;
Da
che immer in einem fremden und seltsamern Licht vorstel-
len möchte, massen das Kindische und Frostige, wie Longin
schon angemercket hat, eben aus einer Begierde allzeit
etwas neues und ungemeines zu sagen entspringt. Der
Hr. von Eckard hat dieses wiederum nicht übel getroffen:
Wer stets entzücken will, und viel auf Wunder hält,
Stellt leicht den Stöhr ins Holz, den Ochsen in den Belt.
V. 41. So leicht (bald) ist es geschehn, auch wenn man
sich bemüht,
Von Fehlern frey zu seyn, daß sich der Kiel versieht.)

Es braucht in der That eine feine Kunst und grosse
Geschicklichkeit, wenn man kurtz ohne Dunckelheit, fliessend
ohne Mattigkeit, erhaben ohne Schwulst, behutsam ohne
Niederträchtigkeit, und ungemein ohne Verletzung der
Wahrscheinlichkeit schreiben will: Warum? Diese Fehler
gränzen mit den Tugenden gar nahe zusammen, und eine
angsthafte Behutsamkeit selbige zu vermeiden, wenn sie nicht
durch die Kunst geleitet wird, stürzet uns nicht selten mit-
ten darein: Das ist Horazens Meinung mit dem Verse:
In vitium ducit culpae fuga, si caret arte.
Hr. Gottsched hat das si caret arte als überflüssig gäntz-
lich weggelassen, und den Horaz nur dahin erklärt, als ob
er sagen wollte: Daß ein Poet, aller Behutsamkeit unge-
achtet, gleichwohl nicht ohne Fehler seyn könne. Aber
dieses heißt vielmehr einem andern seine Meinung andich-
ten, als eines andern Meinung durch eine treue Ueberse-
zung erklären.
V. 43. Man läßt ein Fechterspiel aus dichtem Erzte
giessen.)

Jch kan gar nicht errathen, was Hr. Gottsched gesehen
haben muß, als er diesen und die vier folgenden Reimen
von Horazens Dichtkunſt.
So leicht iſt es geſchehn, auch wenn man ſich bemuͤht
Von Fehlern frey zu ſeyn, daß ſich der Kiel verſieht.
Man laͤßt ein Fechterſpiel aus dichtem Erzte gieſſen;
Da
che immer in einem fremden und ſeltſamern Licht vorſtel-
len moͤchte, maſſen das Kindiſche und Froſtige, wie Longin
ſchon angemercket hat, eben aus einer Begierde allzeit
etwas neues und ungemeines zu ſagen entſpringt. Der
Hr. von Eckard hat dieſes wiederum nicht uͤbel getroffen:
Wer ſtets entzuͤcken will, und viel auf Wunder haͤlt,
Stellt leicht den Stoͤhr ins Holz, den Ochſen in den Belt.
V. 41. So leicht (bald) iſt es geſchehn, auch wenn man
ſich bemuͤht,
Von Fehlern frey zu ſeyn, daß ſich der Kiel verſieht.)

Es braucht in der That eine feine Kunſt und groſſe
Geſchicklichkeit, wenn man kurtz ohne Dunckelheit, flieſſend
ohne Mattigkeit, erhaben ohne Schwulſt, behutſam ohne
Niedertraͤchtigkeit, und ungemein ohne Verletzung der
Wahrſcheinlichkeit ſchreiben will: Warum? Dieſe Fehler
graͤnzen mit den Tugenden gar nahe zuſammen, und eine
angſthafte Behutſamkeit ſelbige zu vermeiden, wenn ſie nicht
durch die Kunſt geleitet wird, ſtuͤrzet uns nicht ſelten mit-
ten darein: Das iſt Horazens Meinung mit dem Verſe:
In vitium ducit culpæ fuga, ſi caret arte.
Hr. Gottſched hat das ſi caret arte als uͤberfluͤſſig gaͤntz-
lich weggelaſſen, und den Horaz nur dahin erklaͤrt, als ob
er ſagen wollte: Daß ein Poet, aller Behutſamkeit unge-
achtet, gleichwohl nicht ohne Fehler ſeyn koͤnne. Aber
dieſes heißt vielmehr einem andern ſeine Meinung andich-
ten, als eines andern Meinung durch eine treue Ueberſe-
zung erklaͤren.
V. 43. Man laͤßt ein Fechterſpiel aus dichtem Erzte
gieſſen.)

Jch kan gar nicht errathen, was Hr. Gottſched geſehen
haben muß, als er dieſen und die vier folgenden Reimen
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <lg type="poem">
            <pb facs="#f0095" n="95"/>
            <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">von Horazens Dichtkun&#x017F;t.</hi> </fw><lb/>
            <l>So leicht i&#x017F;t es ge&#x017F;chehn, auch wenn man &#x017F;ich bemu&#x0364;ht</l><lb/>
            <l>Von Fehlern frey zu &#x017F;eyn, daß &#x017F;ich der Kiel ver&#x017F;ieht.<note place="foot"><hi rendition="#fr">V. 41. So leicht</hi> (bald) <hi rendition="#fr">i&#x017F;t es ge&#x017F;chehn, auch wenn man<lb/>
&#x017F;ich bemu&#x0364;ht,<lb/>
Von Fehlern frey zu &#x017F;eyn, daß &#x017F;ich der Kiel ver&#x017F;ieht.)</hi><lb/>
Es braucht in der That eine feine Kun&#x017F;t und gro&#x017F;&#x017F;e<lb/>
Ge&#x017F;chicklichkeit, wenn man kurtz ohne Dunckelheit, flie&#x017F;&#x017F;end<lb/>
ohne Mattigkeit, erhaben ohne Schwul&#x017F;t, behut&#x017F;am ohne<lb/>
Niedertra&#x0364;chtigkeit, und ungemein ohne Verletzung der<lb/>
Wahr&#x017F;cheinlichkeit &#x017F;chreiben will: Warum? Die&#x017F;e Fehler<lb/>
gra&#x0364;nzen mit den Tugenden gar nahe zu&#x017F;ammen, und eine<lb/>
ang&#x017F;thafte Behut&#x017F;amkeit &#x017F;elbige zu vermeiden, wenn &#x017F;ie nicht<lb/>
durch die Kun&#x017F;t geleitet wird, &#x017F;tu&#x0364;rzet uns nicht &#x017F;elten mit-<lb/>
ten darein: Das i&#x017F;t Horazens Meinung mit dem Ver&#x017F;e:<lb/><cit><quote><hi rendition="#aq">In vitium ducit culpæ fuga, &#x017F;i caret arte.</hi></quote></cit><lb/>
Hr. Gott&#x017F;ched hat das <hi rendition="#aq">&#x017F;i caret arte</hi> als u&#x0364;berflu&#x0364;&#x017F;&#x017F;ig ga&#x0364;ntz-<lb/>
lich weggela&#x017F;&#x017F;en, und den Horaz nur dahin erkla&#x0364;rt, als ob<lb/>
er &#x017F;agen wollte: Daß ein Poet, aller Behut&#x017F;amkeit unge-<lb/>
achtet, gleichwohl nicht ohne Fehler &#x017F;eyn ko&#x0364;nne. Aber<lb/>
die&#x017F;es heißt vielmehr einem andern &#x017F;eine Meinung andich-<lb/>
ten, als eines andern Meinung durch eine treue Ueber&#x017F;e-<lb/>
zung erkla&#x0364;ren.</note></l><lb/>
            <l>Man la&#x0364;ßt ein Fechter&#x017F;piel aus dichtem Erzte gie&#x017F;&#x017F;en;<note xml:id="a017" place="foot" next="#a017b"><hi rendition="#fr">V. 43. Man la&#x0364;ßt ein Fechter&#x017F;piel aus dichtem Erzte<lb/>
gie&#x017F;&#x017F;en.)</hi><lb/>
Jch kan gar nicht errathen, was Hr. Gott&#x017F;ched ge&#x017F;ehen<lb/>
haben muß, als er die&#x017F;en und die vier folgenden Reimen</note></l><lb/>
            <fw place="bottom" type="catch">Da</fw><lb/>
            <note xml:id="a016b" prev="#a016" place="foot">che immer in einem fremden und &#x017F;elt&#x017F;amern Licht vor&#x017F;tel-<lb/>
len mo&#x0364;chte, ma&#x017F;&#x017F;en das Kindi&#x017F;che und Fro&#x017F;tige, wie Longin<lb/>
&#x017F;chon angemercket hat, eben aus einer Begierde allzeit<lb/>
etwas neues und ungemeines zu &#x017F;agen ent&#x017F;pringt. Der<lb/>
Hr. von Eckard hat die&#x017F;es wiederum nicht u&#x0364;bel getroffen:<lb/><hi rendition="#fr">Wer &#x017F;tets entzu&#x0364;cken will, und viel auf Wunder ha&#x0364;lt,<lb/>
Stellt leicht den Sto&#x0364;hr ins Holz, den Och&#x017F;en in den Belt.</hi></note><lb/><lb/><lb/>
          </lg>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[95/0095] von Horazens Dichtkunſt. So leicht iſt es geſchehn, auch wenn man ſich bemuͤht Von Fehlern frey zu ſeyn, daß ſich der Kiel verſieht. Man laͤßt ein Fechterſpiel aus dichtem Erzte gieſſen; Da V. 41. So leicht (bald) iſt es geſchehn, auch wenn man ſich bemuͤht, Von Fehlern frey zu ſeyn, daß ſich der Kiel verſieht.) Es braucht in der That eine feine Kunſt und groſſe Geſchicklichkeit, wenn man kurtz ohne Dunckelheit, flieſſend ohne Mattigkeit, erhaben ohne Schwulſt, behutſam ohne Niedertraͤchtigkeit, und ungemein ohne Verletzung der Wahrſcheinlichkeit ſchreiben will: Warum? Dieſe Fehler graͤnzen mit den Tugenden gar nahe zuſammen, und eine angſthafte Behutſamkeit ſelbige zu vermeiden, wenn ſie nicht durch die Kunſt geleitet wird, ſtuͤrzet uns nicht ſelten mit- ten darein: Das iſt Horazens Meinung mit dem Verſe: In vitium ducit culpæ fuga, ſi caret arte. Hr. Gottſched hat das ſi caret arte als uͤberfluͤſſig gaͤntz- lich weggelaſſen, und den Horaz nur dahin erklaͤrt, als ob er ſagen wollte: Daß ein Poet, aller Behutſamkeit unge- achtet, gleichwohl nicht ohne Fehler ſeyn koͤnne. Aber dieſes heißt vielmehr einem andern ſeine Meinung andich- ten, als eines andern Meinung durch eine treue Ueberſe- zung erklaͤren. V. 43. Man laͤßt ein Fechterſpiel aus dichtem Erzte gieſſen.) Jch kan gar nicht errathen, was Hr. Gottſched geſehen haben muß, als er dieſen und die vier folgenden Reimen che immer in einem fremden und ſeltſamern Licht vorſtel- len moͤchte, maſſen das Kindiſche und Froſtige, wie Longin ſchon angemercket hat, eben aus einer Begierde allzeit etwas neues und ungemeines zu ſagen entſpringt. Der Hr. von Eckard hat dieſes wiederum nicht uͤbel getroffen: Wer ſtets entzuͤcken will, und viel auf Wunder haͤlt, Stellt leicht den Stoͤhr ins Holz, den Ochſen in den Belt.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung09_1743
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung09_1743/95
Zitationshilfe: [Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 9. Zürich, 1749, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung09_1743/95>, abgerufen am 24.11.2024.