Zweck des alten Lebens, die Nahrungsaufnahme; der zarte ge¬ flügelte Körper des neuen Wesens besitzt gar keine brauchbaren Kauwerkzeuge mehr. Die Jahre des Raubens, Würgens, Ver¬ schlingens mit ihrem verheerenden Kampfe sind auf einmal zu nichts verweht. Aber neue Organe sind dafür da und regen sich ver¬ langend an dem durchsichtigen Elfenleibe: die Organe der Liebe.
Und das Leben, wie lang oder kurz es nun noch währen mag, hat einen neuen Zweck.
Über das Individuum greift er hinaus.
Diese im Mondesduft aufschillernde Wolke federleichter, be¬ flügelter Luftwesen ist kein Heer von Einsiedlern mehr, die in der Tiefe unten nur ein Zufall an denselben Ort gebannt zu haben schien, die aber jeder für sich hartnäckig ihren Weg gingen oder ihre selbstgewählte Zelle behaupteten und die sich gegen¬ seitig höchstens die Nahrung fortschnappten .... wie durch die Gewitterwolke dort neben dem roten Mond die Elektrizität in wallenden Schauern zuckt, so wallt durch diese ganze Wolke schwebender Insekten ein einziges unsägliches Verlangen nach Vereinigung, Verschmelzung des eigenen Individuums mit einem zweiten in überströmendem, alle Einzelheit und Endlich¬ keit in die Gemeinschaft und Unendlichkeit der Gattung hinüber¬ schmelzendem Liebesglück .... alle wollen zwei werden und in der Inbrunst dieses Wollens werden die Einsiedler zu einer seligen Wolke selbstloser Geselligkeit .... immer neue Brüder und Schwestern tauchten auf aus dem schwarzen Schlund, hinauf in die Herrlichkeit der Gewitterluft und der Mondverklärung -- und in den Lüften, im betäubenden Wirbel der unzählbaren Menge greift sich Paar um Paar und vollzieht unter allen Seligkeitsschauern, die dieser winzige, blumenzarte Organismus für einen Moment vollkommenster Erlösung und Harmonie bis zur Neige ertragen kann, den großen Akt des neuen Zweckes: die Begattung.
Über die heißen, nach dem Tau des Gewitters lechzenden Felder tönt von neuem die Dorfuhr, es ist zehn Uhr. Der
Zweck des alten Lebens, die Nahrungsaufnahme; der zarte ge¬ flügelte Körper des neuen Weſens beſitzt gar keine brauchbaren Kauwerkzeuge mehr. Die Jahre des Raubens, Würgens, Ver¬ ſchlingens mit ihrem verheerenden Kampfe ſind auf einmal zu nichts verweht. Aber neue Organe ſind dafür da und regen ſich ver¬ langend an dem durchſichtigen Elfenleibe: die Organe der Liebe.
Und das Leben, wie lang oder kurz es nun noch währen mag, hat einen neuen Zweck.
Über das Individuum greift er hinaus.
Dieſe im Mondesduft aufſchillernde Wolke federleichter, be¬ flügelter Luftweſen iſt kein Heer von Einſiedlern mehr, die in der Tiefe unten nur ein Zufall an denſelben Ort gebannt zu haben ſchien, die aber jeder für ſich hartnäckig ihren Weg gingen oder ihre ſelbſtgewählte Zelle behaupteten und die ſich gegen¬ ſeitig höchſtens die Nahrung fortſchnappten .... wie durch die Gewitterwolke dort neben dem roten Mond die Elektrizität in wallenden Schauern zuckt, ſo wallt durch dieſe ganze Wolke ſchwebender Inſekten ein einziges unſägliches Verlangen nach Vereinigung, Verſchmelzung des eigenen Individuums mit einem zweiten in überſtrömendem, alle Einzelheit und Endlich¬ keit in die Gemeinſchaft und Unendlichkeit der Gattung hinüber¬ ſchmelzendem Liebesglück .... alle wollen zwei werden und in der Inbrunſt dieſes Wollens werden die Einſiedler zu einer ſeligen Wolke ſelbſtloſer Geſelligkeit .... immer neue Brüder und Schweſtern tauchten auf aus dem ſchwarzen Schlund, hinauf in die Herrlichkeit der Gewitterluft und der Mondverklärung — und in den Lüften, im betäubenden Wirbel der unzählbaren Menge greift ſich Paar um Paar und vollzieht unter allen Seligkeitsſchauern, die dieſer winzige, blumenzarte Organismus für einen Moment vollkommenſter Erlöſung und Harmonie bis zur Neige ertragen kann, den großen Akt des neuen Zweckes: die Begattung.
Über die heißen, nach dem Tau des Gewitters lechzenden Felder tönt von neuem die Dorfuhr, es iſt zehn Uhr. Der
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Zweck des alten Lebens, die Nahrungsaufnahme; der zarte ge¬
flügelte Körper des neuen Weſens beſitzt gar keine brauchbaren
Kauwerkzeuge mehr. Die Jahre des Raubens, Würgens, Ver¬
ſchlingens mit ihrem verheerenden Kampfe ſind auf einmal zu nichts
verweht. Aber neue Organe ſind dafür da und regen ſich ver¬
langend an dem durchſichtigen Elfenleibe: die Organe der Liebe.
Und das Leben, wie lang oder kurz es nun noch währen
mag, hat einen neuen Zweck.
Über das Individuum greift er hinaus.
Dieſe im Mondesduft aufſchillernde Wolke federleichter, be¬
flügelter Luftweſen iſt kein Heer von Einſiedlern mehr, die in
der Tiefe unten nur ein Zufall an denſelben Ort gebannt zu
haben ſchien, die aber jeder für ſich hartnäckig ihren Weg gingen
oder ihre ſelbſtgewählte Zelle behaupteten und die ſich gegen¬
ſeitig höchſtens die Nahrung fortſchnappten .... wie durch die
Gewitterwolke dort neben dem roten Mond die Elektrizität in
wallenden Schauern zuckt, ſo wallt durch dieſe ganze Wolke
ſchwebender Inſekten ein einziges unſägliches Verlangen nach
Vereinigung, Verſchmelzung des eigenen Individuums mit
einem zweiten in überſtrömendem, alle Einzelheit und Endlich¬
keit in die Gemeinſchaft und Unendlichkeit der Gattung hinüber¬
ſchmelzendem Liebesglück .... alle wollen zwei werden und
in der Inbrunſt dieſes Wollens werden die Einſiedler zu einer
ſeligen Wolke ſelbſtloſer Geſelligkeit .... immer neue Brüder
und Schweſtern tauchten auf aus dem ſchwarzen Schlund, hinauf
in die Herrlichkeit der Gewitterluft und der Mondverklärung —
und in den Lüften, im betäubenden Wirbel der unzählbaren
Menge greift ſich Paar um Paar und vollzieht unter allen
Seligkeitsſchauern, die dieſer winzige, blumenzarte Organismus
für einen Moment vollkommenſter Erlöſung und Harmonie bis
zur Neige ertragen kann, den großen Akt des neuen Zweckes:
die Begattung.
Über die heißen, nach dem Tau des Gewitters lechzenden
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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 12. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/28>, abgerufen am 23.11.2024.
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