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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898.

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Mit Mut wandert er hinüber an den Rand des anderen
Netzes. Die große dicke Spinne im Zentrum dort gewahrt ihn.
Nun ist mancherlei möglich.

Es ist möglich, daß er ihr individuell nicht gefällt. Viel¬
leicht ist er zu klein, nicht schön und deutlich genug gezeichnet,
kurz aus irgend einem Grunde mißliebig. Dann ist die Sache
natürlich von vorne herein verzweifelt. Das Weib lauert ihm
auf genau wie einer Fliege.

Doch es soll nicht so sein. Die Spinne beschaut den
Werber und findet so weit Wohlgefallen an ihm. Langsam
klettert sie von ihrem Thron herab auf die Netzecke zu, wo
das Männchen bescheiden wartet. Kein Zweifel, sie empfindet
selbst Liebessehnsucht. Die ungeheure Weltenneigung schläfert
auf eine Stunde die individuelle Freßneigung ein. Mit
dem Rücken nach unten, den Kopf voraus, die Beine wie
erstarrt angezogen hängt sich Frau Spinne im Netze an, --
sie erwartet den Spinnerich ..... Wird er Siegfried sein?

Oder wird es ihm gehen wie dem armen König Gunther, den
Frau Brunhild in der Brautnacht knebelte und an die Decke
hing .....?

Aber noch entscheidet sich nichts. Eine neue Möglichkeit.
Auf eine Spinne kommen an unserem Spinnenzaun mehrere
wartende und hoffende Männchen. Im allgemeinen ist das
Prozentverhältnis ein Weibchen auf ein Dutzend Männer!
Das giebt Konkurrenzgefahr. Unversehens, wie er noch über
die guten oder bösen Absichten der Heldin in einigen Zweifeln
zu schweben scheint, sieht sich der Held von einem Nebenbuhler
angegriffen. Streit, Abwehr, Balgerei. Die Heldin wartet.
Wer wird siegen? Der Sieger ist sicherlich der energischste
Mann. Also Gottesurteil. Nun, unser Spinnerich soll der
Stärkere wirklich sein. Der Nebenbuhler zieht ab. Und jetzt --
vom Kampf zur Liebe.

Vorsichtig, immer vorsichtig geht Herr Spinnerich auf
seine Dame zu, den Rücken nach unten wie sie. Jetzt faßt er ihr

Mit Mut wandert er hinüber an den Rand des anderen
Netzes. Die große dicke Spinne im Zentrum dort gewahrt ihn.
Nun iſt mancherlei möglich.

Es iſt möglich, daß er ihr individuell nicht gefällt. Viel¬
leicht iſt er zu klein, nicht ſchön und deutlich genug gezeichnet,
kurz aus irgend einem Grunde mißliebig. Dann iſt die Sache
natürlich von vorne herein verzweifelt. Das Weib lauert ihm
auf genau wie einer Fliege.

Doch es ſoll nicht ſo ſein. Die Spinne beſchaut den
Werber und findet ſo weit Wohlgefallen an ihm. Langſam
klettert ſie von ihrem Thron herab auf die Netzecke zu, wo
das Männchen beſcheiden wartet. Kein Zweifel, ſie empfindet
ſelbſt Liebesſehnſucht. Die ungeheure Weltenneigung ſchläfert
auf eine Stunde die individuelle Freßneigung ein. Mit
dem Rücken nach unten, den Kopf voraus, die Beine wie
erſtarrt angezogen hängt ſich Frau Spinne im Netze an, —
ſie erwartet den Spinnerich ..... Wird er Siegfried ſein?

Oder wird es ihm gehen wie dem armen König Gunther, den
Frau Brunhild in der Brautnacht knebelte und an die Decke
hing .....?

Aber noch entſcheidet ſich nichts. Eine neue Möglichkeit.
Auf eine Spinne kommen an unſerem Spinnenzaun mehrere
wartende und hoffende Männchen. Im allgemeinen iſt das
Prozentverhältnis ein Weibchen auf ein Dutzend Männer!
Das giebt Konkurrenzgefahr. Unverſehens, wie er noch über
die guten oder böſen Abſichten der Heldin in einigen Zweifeln
zu ſchweben ſcheint, ſieht ſich der Held von einem Nebenbuhler
angegriffen. Streit, Abwehr, Balgerei. Die Heldin wartet.
Wer wird ſiegen? Der Sieger iſt ſicherlich der energiſchſte
Mann. Alſo Gottesurteil. Nun, unſer Spinnerich ſoll der
Stärkere wirklich ſein. Der Nebenbuhler zieht ab. Und jetzt —
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[336/0352] Mit Mut wandert er hinüber an den Rand des anderen Netzes. Die große dicke Spinne im Zentrum dort gewahrt ihn. Nun iſt mancherlei möglich. Es iſt möglich, daß er ihr individuell nicht gefällt. Viel¬ leicht iſt er zu klein, nicht ſchön und deutlich genug gezeichnet, kurz aus irgend einem Grunde mißliebig. Dann iſt die Sache natürlich von vorne herein verzweifelt. Das Weib lauert ihm auf genau wie einer Fliege. Doch es ſoll nicht ſo ſein. Die Spinne beſchaut den Werber und findet ſo weit Wohlgefallen an ihm. Langſam klettert ſie von ihrem Thron herab auf die Netzecke zu, wo das Männchen beſcheiden wartet. Kein Zweifel, ſie empfindet ſelbſt Liebesſehnſucht. Die ungeheure Weltenneigung ſchläfert auf eine Stunde die individuelle Freßneigung ein. Mit dem Rücken nach unten, den Kopf voraus, die Beine wie erſtarrt angezogen hängt ſich Frau Spinne im Netze an, — ſie erwartet den Spinnerich ..... Wird er Siegfried ſein? Oder wird es ihm gehen wie dem armen König Gunther, den Frau Brunhild in der Brautnacht knebelte und an die Decke hing .....? Aber noch entſcheidet ſich nichts. Eine neue Möglichkeit. Auf eine Spinne kommen an unſerem Spinnenzaun mehrere wartende und hoffende Männchen. Im allgemeinen iſt das Prozentverhältnis ein Weibchen auf ein Dutzend Männer! Das giebt Konkurrenzgefahr. Unverſehens, wie er noch über die guten oder böſen Abſichten der Heldin in einigen Zweifeln zu ſchweben ſcheint, ſieht ſich der Held von einem Nebenbuhler angegriffen. Streit, Abwehr, Balgerei. Die Heldin wartet. Wer wird ſiegen? Der Sieger iſt ſicherlich der energiſchſte Mann. Alſo Gottesurteil. Nun, unſer Spinnerich ſoll der Stärkere wirklich ſein. Der Nebenbuhler zieht ab. Und jetzt — vom Kampf zur Liebe. Vorſichtig, immer vorſichtig geht Herr Spinnerich auf ſeine Dame zu, den Rücken nach unten wie ſie. Jetzt faßt er ihr

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 336. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/352>, abgerufen am 21.11.2024.