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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900.

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Hier tritt einfach in Kraft, was wir oben so eingehend
durchgesprochen haben: daß nämlich für uns bewußte große
Einheitsmenschen auch der intimste Begattungsakt immer noch
im feinsten Sinne ein Distanceakt bleibt. Die Körper von
Mann und Weib berühren sich bis in die diskreteste Innenwelt
hinein, -- aber sie verschmelzen nicht. Nur die jederseits los¬
gelöste Samenzelle und Eizelle vollführen den wahren Mischakt,
aber erst nachträglich und ganz ohne unser weiteres Zuthun.
Unsere gesamte Ganzmenschenliebe ist und bleibt von ihrem
Alpha bis zu ihrem Omega, von der ersten Lichtwelle, die
zwischen den Liebenden her und wieder fliegt, bis zu der
tiefsten Versenkung des Liebesgliedes in die Liebespforte, eine
einzige fortlaufende Distanceliebe.

Daraus aber ergiebt sich geradezu zwingend eine weitere
einfache Folgerung.

Wir haben früher den Weg genau verfolgt wie aus ein¬
zelligen Urwesen vielzellige Tiere sich herausbildeten. Die
Einzeller traten zu Zellgenossenschaften zusammen. Anfangs
ist jede Einzelzelle in solcher Genossenschaft noch ein selbständiges
Wesen. Jede Zelle besitzt alle Lebenseigenschaften in sich: sie
frißt, verdaut, atmet, bewegt sich, empfindet Lichtwellen, Schall¬
wellen, Geruchs- und Geschmackseindrücke, sie orientiert sich
in ihrer Umgebung nach Kräften und so weiter. Allmählich
aber ordnen sich die Genossenschaftszellen dann nach dem Prinzip
der Arbeitsteilung. Jede kultiviert in sich nur mehr ein Ressort,
genießt aber die Arbeit aller anderen dabei mit. Bestimmte
Zellen fressen nur noch, andere fangen bloß Lichtwellen auf,
wieder andere bloß Schallwellen, gewisse bewegen die ganze
Kolonie vorwärts, noch andere bilden eine Zentralstelle zur
allgemeinen Orientierung. Kurz: die Zellgenossenschaft bildet
schließlich ein neues Individuum, das wie eine vergrößerte,
gesteigerte Auflage der ursprünglichen Einzelzelle erscheint.

Auch dieses Gesamt-Individuum bewegt sich, frißt, atmet,
hört, sieht wieder, bloß daß alle seine Organe engere Verbände

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Hier tritt einfach in Kraft, was wir oben ſo eingehend
durchgeſprochen haben: daß nämlich für uns bewußte große
Einheitsmenſchen auch der intimſte Begattungsakt immer noch
im feinſten Sinne ein Diſtanceakt bleibt. Die Körper von
Mann und Weib berühren ſich bis in die diskreteſte Innenwelt
hinein, — aber ſie verſchmelzen nicht. Nur die jederſeits los¬
gelöſte Samenzelle und Eizelle vollführen den wahren Miſchakt,
aber erſt nachträglich und ganz ohne unſer weiteres Zuthun.
Unſere geſamte Ganzmenſchenliebe iſt und bleibt von ihrem
Alpha bis zu ihrem Omega, von der erſten Lichtwelle, die
zwiſchen den Liebenden her und wieder fliegt, bis zu der
tiefſten Verſenkung des Liebesgliedes in die Liebespforte, eine
einzige fortlaufende Diſtanceliebe.

Daraus aber ergiebt ſich geradezu zwingend eine weitere
einfache Folgerung.

Wir haben früher den Weg genau verfolgt wie aus ein¬
zelligen Urweſen vielzellige Tiere ſich herausbildeten. Die
Einzeller traten zu Zellgenoſſenſchaften zuſammen. Anfangs
iſt jede Einzelzelle in ſolcher Genoſſenſchaft noch ein ſelbſtändiges
Weſen. Jede Zelle beſitzt alle Lebenseigenſchaften in ſich: ſie
frißt, verdaut, atmet, bewegt ſich, empfindet Lichtwellen, Schall¬
wellen, Geruchs- und Geſchmackseindrücke, ſie orientiert ſich
in ihrer Umgebung nach Kräften und ſo weiter. Allmählich
aber ordnen ſich die Genoſſenſchaftszellen dann nach dem Prinzip
der Arbeitsteilung. Jede kultiviert in ſich nur mehr ein Reſſort,
genießt aber die Arbeit aller anderen dabei mit. Beſtimmte
Zellen freſſen nur noch, andere fangen bloß Lichtwellen auf,
wieder andere bloß Schallwellen, gewiſſe bewegen die ganze
Kolonie vorwärts, noch andere bilden eine Zentralſtelle zur
allgemeinen Orientierung. Kurz: die Zellgenoſſenſchaft bildet
ſchließlich ein neues Individuum, das wie eine vergrößerte,
geſteigerte Auflage der urſprünglichen Einzelzelle erſcheint.

Auch dieſes Geſamt-Individuum bewegt ſich, frißt, atmet,
hört, ſieht wieder, bloß daß alle ſeine Organe engere Verbände

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[305/0321] Hier tritt einfach in Kraft, was wir oben ſo eingehend durchgeſprochen haben: daß nämlich für uns bewußte große Einheitsmenſchen auch der intimſte Begattungsakt immer noch im feinſten Sinne ein Diſtanceakt bleibt. Die Körper von Mann und Weib berühren ſich bis in die diskreteſte Innenwelt hinein, — aber ſie verſchmelzen nicht. Nur die jederſeits los¬ gelöſte Samenzelle und Eizelle vollführen den wahren Miſchakt, aber erſt nachträglich und ganz ohne unſer weiteres Zuthun. Unſere geſamte Ganzmenſchenliebe iſt und bleibt von ihrem Alpha bis zu ihrem Omega, von der erſten Lichtwelle, die zwiſchen den Liebenden her und wieder fliegt, bis zu der tiefſten Verſenkung des Liebesgliedes in die Liebespforte, eine einzige fortlaufende Diſtanceliebe. Daraus aber ergiebt ſich geradezu zwingend eine weitere einfache Folgerung. Wir haben früher den Weg genau verfolgt wie aus ein¬ zelligen Urweſen vielzellige Tiere ſich herausbildeten. Die Einzeller traten zu Zellgenoſſenſchaften zuſammen. Anfangs iſt jede Einzelzelle in ſolcher Genoſſenſchaft noch ein ſelbſtändiges Weſen. Jede Zelle beſitzt alle Lebenseigenſchaften in ſich: ſie frißt, verdaut, atmet, bewegt ſich, empfindet Lichtwellen, Schall¬ wellen, Geruchs- und Geſchmackseindrücke, ſie orientiert ſich in ihrer Umgebung nach Kräften und ſo weiter. Allmählich aber ordnen ſich die Genoſſenſchaftszellen dann nach dem Prinzip der Arbeitsteilung. Jede kultiviert in ſich nur mehr ein Reſſort, genießt aber die Arbeit aller anderen dabei mit. Beſtimmte Zellen freſſen nur noch, andere fangen bloß Lichtwellen auf, wieder andere bloß Schallwellen, gewiſſe bewegen die ganze Kolonie vorwärts, noch andere bilden eine Zentralſtelle zur allgemeinen Orientierung. Kurz: die Zellgenoſſenſchaft bildet ſchließlich ein neues Individuum, das wie eine vergrößerte, geſteigerte Auflage der urſprünglichen Einzelzelle erſcheint. Auch dieſes Geſamt-Individuum bewegt ſich, frißt, atmet, hört, ſieht wieder, bloß daß alle ſeine Organe engere Verbände 20

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900, S. 305. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900/321>, abgerufen am 22.11.2024.