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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900.

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Wie bläuliche Gletscher schillert es auf einmal allenthalben in
dem Schneegipfel. Aber schon werden die Gletscher zu blauen
Strömen und wieder die Ströme werden zum offenen Riß
in das Metallblau des Azurs hinein. Feine Fähnchen hängen
jetzt gleich schillerigen Eiszapfen von den Schneerändern hinaus.
Dann zerstieben die Zapfen ganz zu feinem weißen Staub, als
würden es Wasserfälle, die in Schaum verfliegen ehe der Ab¬
grund durchmessen ist. Noch ein paar Minuten -- und die
ganze Wolke ist hin, -- ein Nebelfleckchen nur noch im sieg¬
haften Blau, eine bleiche Trübung -- nichts mehr. Aber
tief unten auf dem Wald liegt wie ein äugender weißer Bär
schon eine neue, die herauf will. Herauf in denselben Kampf.
Und um auch so zu sterben ......

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Ja wohl, das Geschichtliche gibt zweifellos einen tieferen
Blick. Dieser Millionenjahre-Mensch, in dem so und so viel
Welten aufeinander geschichtet liegen, der durch so und so
viel Ungeheuer historisch durchgeklettert ist und von allen heute
noch gleichsam Schwänze und Klauen an sich trägt, -- dieser
Mensch Darwins und der wahren Weltgeschichte ist wirklich
ein ganz anders verständlicher Kerl als jener Paradies-Adam
Jehovahs, der fix und fertig gedrechselt und lackiert auf den
Markt gestellt wurde, um sogleich und für alle Folge jetzt das
Ideal zu vertreten, und der dann doch so mangelhaft sich
erwies, wie er -- eben ist.

Dieser geschichtlich gewordene Mensch gleicht dem Helden
der Tolstoischen Novelle, dem sein Leben vorkam wie die
fürchterliche Würgearbeit eines Lebendigen, der in einen Wollsack
eingenäht ist, und der sich wälzen und wirbeln und stoßen
muß, bis endlich, endlich der Kopf das eine Wurstende durch¬
gebohrt hat und ins Licht taucht. Es ist gewiß keine Ab¬

Wie bläuliche Gletſcher ſchillert es auf einmal allenthalben in
dem Schneegipfel. Aber ſchon werden die Gletſcher zu blauen
Strömen und wieder die Ströme werden zum offenen Riß
in das Metallblau des Azurs hinein. Feine Fähnchen hängen
jetzt gleich ſchillerigen Eiszapfen von den Schneerändern hinaus.
Dann zerſtieben die Zapfen ganz zu feinem weißen Staub, als
würden es Waſſerfälle, die in Schaum verfliegen ehe der Ab¬
grund durchmeſſen iſt. Noch ein paar Minuten — und die
ganze Wolke iſt hin, — ein Nebelfleckchen nur noch im ſieg¬
haften Blau, eine bleiche Trübung — nichts mehr. Aber
tief unten auf dem Wald liegt wie ein äugender weißer Bär
ſchon eine neue, die herauf will. Herauf in denſelben Kampf.
Und um auch ſo zu ſterben ......

[Abbildung]

Ja wohl, das Geſchichtliche gibt zweifellos einen tieferen
Blick. Dieſer Millionenjahre-Menſch, in dem ſo und ſo viel
Welten aufeinander geſchichtet liegen, der durch ſo und ſo
viel Ungeheuer hiſtoriſch durchgeklettert iſt und von allen heute
noch gleichſam Schwänze und Klauen an ſich trägt, — dieſer
Menſch Darwins und der wahren Weltgeſchichte iſt wirklich
ein ganz anders verſtändlicher Kerl als jener Paradies-Adam
Jehovahs, der fix und fertig gedrechſelt und lackiert auf den
Markt geſtellt wurde, um ſogleich und für alle Folge jetzt das
Ideal zu vertreten, und der dann doch ſo mangelhaft ſich
erwies, wie er — eben iſt.

Dieſer geſchichtlich gewordene Menſch gleicht dem Helden
der Tolſtoiſchen Novelle, dem ſein Leben vorkam wie die
fürchterliche Würgearbeit eines Lebendigen, der in einen Wollſack
eingenäht iſt, und der ſich wälzen und wirbeln und ſtoßen
muß, bis endlich, endlich der Kopf das eine Wurſtende durch¬
gebohrt hat und ins Licht taucht. Es iſt gewiß keine Ab¬

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[327/0343] Wie bläuliche Gletſcher ſchillert es auf einmal allenthalben in dem Schneegipfel. Aber ſchon werden die Gletſcher zu blauen Strömen und wieder die Ströme werden zum offenen Riß in das Metallblau des Azurs hinein. Feine Fähnchen hängen jetzt gleich ſchillerigen Eiszapfen von den Schneerändern hinaus. Dann zerſtieben die Zapfen ganz zu feinem weißen Staub, als würden es Waſſerfälle, die in Schaum verfliegen ehe der Ab¬ grund durchmeſſen iſt. Noch ein paar Minuten — und die ganze Wolke iſt hin, — ein Nebelfleckchen nur noch im ſieg¬ haften Blau, eine bleiche Trübung — nichts mehr. Aber tief unten auf dem Wald liegt wie ein äugender weißer Bär ſchon eine neue, die herauf will. Herauf in denſelben Kampf. Und um auch ſo zu ſterben ...... [Abbildung] Ja wohl, das Geſchichtliche gibt zweifellos einen tieferen Blick. Dieſer Millionenjahre-Menſch, in dem ſo und ſo viel Welten aufeinander geſchichtet liegen, der durch ſo und ſo viel Ungeheuer hiſtoriſch durchgeklettert iſt und von allen heute noch gleichſam Schwänze und Klauen an ſich trägt, — dieſer Menſch Darwins und der wahren Weltgeſchichte iſt wirklich ein ganz anders verſtändlicher Kerl als jener Paradies-Adam Jehovahs, der fix und fertig gedrechſelt und lackiert auf den Markt geſtellt wurde, um ſogleich und für alle Folge jetzt das Ideal zu vertreten, und der dann doch ſo mangelhaft ſich erwies, wie er — eben iſt. Dieſer geſchichtlich gewordene Menſch gleicht dem Helden der Tolſtoiſchen Novelle, dem ſein Leben vorkam wie die fürchterliche Würgearbeit eines Lebendigen, der in einen Wollſack eingenäht iſt, und der ſich wälzen und wirbeln und ſtoßen muß, bis endlich, endlich der Kopf das eine Wurſtende durch¬ gebohrt hat und ins Licht taucht. Es iſt gewiß keine Ab¬

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900, S. 327. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900/343>, abgerufen am 22.11.2024.