absolut freier Geschlechtsverkehr. Jedes Weib durfte so viel es wollte mit jedem Manne verkehren; die Kinder aber gehörten gemeinsam dem ganzen Stamm. Wohl bemerkt: es fehlte in dieser ehelosen Ungesellschaft völlig der Begriff der Prostitution. Die Freiheit des Geschlechtsverkehrs umschloß weder einen Zwang für die Frau, der die Liebeswahl ertötet hätte, noch hemmte sie die natürliche Kinderproduktion.
Nichts konnte also unglücklicher gewählt sein als das Wort, das ein erster Beobachter in diese Dinge hineinbringen wollte: die Bezeichnung dieses Urzustandes nämlich als "Hetärismus", -- als sei er eine Stufe allgemeiner Prostitution gewesen. Es war freilich nicht leicht, überhaupt ein treffendes Wort zu prägen. "Gemeinschaftsehe", das vielfach aufkam, ist auch schlecht, denn wenigstens im reinen Anfangsbilde kennt diese Theorie ja über¬ haupt keine Ehe und gerade darin liegt ihr eigenartigster Besitz, den das Wort auch nur wieder trüben würde.
Doch lassen wir das Wort. Aus diesem freien Urboden wäre erst innerhalb der Geschichte das Pflänzlein der mensch¬ lichen Ehe aufgesproßt, besonnt und begossen nur durch Dinge, die lediglich eine vorübergehende Bedeutung im großen Mensch¬ heitsheraufgang besitzen konnten. Die anschaulichste Fortsetzung der Theorie lautet hier etwa folgendermaßen.
Von der reinen Allvermischung als Urzustand aus kann man zunächst gar nicht auf die Ehe geraten, wenn nicht etwas ganz Neues hinzutritt. Laß den strengen Totemismus sich ausbilden. Erst wird innerhalb jeder Totemsippe frei geliebt. Das soll aber zu Inzuchtsgefahren führen und so wechseln die Sippen ihre Weiber übers Kreuz. Aber es entsteht noch immer keine Ehe, selbst wenn das Gesetz aufkäme: innerhalb des eigenen Totem darf nicht mehr geliebt werden. Stamm zu Stamm stände dann einfach im Stadium des Genossen¬ schaftsbesitzes in der Liebe: allen Stammesbrüdern gehörten alle Stammesschwestern von drüben gemeinsam, allen Büffeln etwa alle Bärinnen. Und doch soll die Ehe in dieser
abſolut freier Geſchlechtsverkehr. Jedes Weib durfte ſo viel es wollte mit jedem Manne verkehren; die Kinder aber gehörten gemeinſam dem ganzen Stamm. Wohl bemerkt: es fehlte in dieſer eheloſen Ungeſellſchaft völlig der Begriff der Proſtitution. Die Freiheit des Geſchlechtsverkehrs umſchloß weder einen Zwang für die Frau, der die Liebeswahl ertötet hätte, noch hemmte ſie die natürliche Kinderproduktion.
Nichts konnte alſo unglücklicher gewählt ſein als das Wort, das ein erſter Beobachter in dieſe Dinge hineinbringen wollte: die Bezeichnung dieſes Urzuſtandes nämlich als „Hetärismus“, — als ſei er eine Stufe allgemeiner Proſtitution geweſen. Es war freilich nicht leicht, überhaupt ein treffendes Wort zu prägen. „Gemeinſchaftsehe“, das vielfach aufkam, iſt auch ſchlecht, denn wenigſtens im reinen Anfangsbilde kennt dieſe Theorie ja über¬ haupt keine Ehe und gerade darin liegt ihr eigenartigſter Beſitz, den das Wort auch nur wieder trüben würde.
Doch laſſen wir das Wort. Aus dieſem freien Urboden wäre erſt innerhalb der Geſchichte das Pflänzlein der menſch¬ lichen Ehe aufgeſproßt, beſonnt und begoſſen nur durch Dinge, die lediglich eine vorübergehende Bedeutung im großen Menſch¬ heitsheraufgang beſitzen konnten. Die anſchaulichſte Fortſetzung der Theorie lautet hier etwa folgendermaßen.
Von der reinen Allvermiſchung als Urzuſtand aus kann man zunächſt gar nicht auf die Ehe geraten, wenn nicht etwas ganz Neues hinzutritt. Laß den ſtrengen Totemismus ſich ausbilden. Erſt wird innerhalb jeder Totemſippe frei geliebt. Das ſoll aber zu Inzuchtsgefahren führen und ſo wechſeln die Sippen ihre Weiber übers Kreuz. Aber es entſteht noch immer keine Ehe, ſelbſt wenn das Geſetz aufkäme: innerhalb des eigenen Totem darf nicht mehr geliebt werden. Stamm zu Stamm ſtände dann einfach im Stadium des Genoſſen¬ ſchaftsbeſitzes in der Liebe: allen Stammesbrüdern gehörten alle Stammesſchweſtern von drüben gemeinſam, allen Büffeln etwa alle Bärinnen. Und doch ſoll die Ehe in dieſer
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abſolut freier Geſchlechtsverkehr. Jedes Weib durfte ſo viel
es wollte mit jedem Manne verkehren; die Kinder aber gehörten
gemeinſam dem ganzen Stamm. Wohl bemerkt: es fehlte in
dieſer eheloſen Ungeſellſchaft völlig der Begriff der Proſtitution.
Die Freiheit des Geſchlechtsverkehrs umſchloß weder einen
Zwang für die Frau, der die Liebeswahl ertötet hätte, noch
hemmte ſie die natürliche Kinderproduktion.
Nichts konnte alſo unglücklicher gewählt ſein als das Wort,
das ein erſter Beobachter in dieſe Dinge hineinbringen wollte:
die Bezeichnung dieſes Urzuſtandes nämlich als „Hetärismus“,
— als ſei er eine Stufe allgemeiner Proſtitution geweſen. Es
war freilich nicht leicht, überhaupt ein treffendes Wort zu prägen.
„Gemeinſchaftsehe“, das vielfach aufkam, iſt auch ſchlecht, denn
wenigſtens im reinen Anfangsbilde kennt dieſe Theorie ja über¬
haupt keine Ehe und gerade darin liegt ihr eigenartigſter Beſitz,
den das Wort auch nur wieder trüben würde.
Doch laſſen wir das Wort. Aus dieſem freien Urboden
wäre erſt innerhalb der Geſchichte das Pflänzlein der menſch¬
lichen Ehe aufgeſproßt, beſonnt und begoſſen nur durch Dinge,
die lediglich eine vorübergehende Bedeutung im großen Menſch¬
heitsheraufgang beſitzen konnten. Die anſchaulichſte Fortſetzung
der Theorie lautet hier etwa folgendermaßen.
Von der reinen Allvermiſchung als Urzuſtand aus kann
man zunächſt gar nicht auf die Ehe geraten, wenn nicht etwas
ganz Neues hinzutritt. Laß den ſtrengen Totemismus ſich
ausbilden. Erſt wird innerhalb jeder Totemſippe frei geliebt.
Das ſoll aber zu Inzuchtsgefahren führen und ſo wechſeln die
Sippen ihre Weiber übers Kreuz. Aber es entſteht noch
immer keine Ehe, ſelbſt wenn das Geſetz aufkäme: innerhalb
des eigenen Totem darf nicht mehr geliebt werden. Stamm
zu Stamm ſtände dann einfach im Stadium des Genoſſen¬
ſchaftsbeſitzes in der Liebe: allen Stammesbrüdern gehörten
alle Stammesſchweſtern von drüben gemeinſam, allen Büffeln
etwa alle Bärinnen. Und doch ſoll die Ehe in dieſer
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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 269. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/283>, abgerufen am 21.11.2024.
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