Gemüthsbewegungen seine zarte Gesundheit nicht ganz zu Grunde zu richten. Strenge Diät ist ihm un¬ entbehrlich. Wenn daher Tausende der edelsten Por¬ tugiesen vom Fleischer Miguel geschlachtet und zer¬ fetzt werden; wenn die Italiener, von der Treibjagd der List und Gewalt in ihr Todesnetz gejagt, von feigen und bequemen Jägern erlegt werden; wenn Belgien wie ein Käse zerschnitten, zugewogen und, in Protokoll-Papier gewickelt, den hungrigen Käufern stückweise eingehändigt wird; wenn Polen den Keu¬ lenschlägen des Tyrannen unterliegt, und sterbend den Helfers-Helfern flucht -- wie wollen die Diplomaten es ertragen, täglich solche Gräuel und Schändlichkei¬ ten zu sehen und zu hören? und doch ist ihnen das Schicksal der Völker anvertraut; wie erleichtern sie sich den Schmerz? Durch eine einfache Veränderung der Worte. Sie stellen sich an, als gäbe es kein Land und kein Volk in der Welt; sie suchen das zu vergessen und es gelingt ihnen durch Uebung. Sie sagen darum nie: Portugal und Portugiesen, Italien und Italiener, Belgien und Belgier, Polen und pol¬ nisches Land; sondern sie sagen: die portugiesi¬ sche Frage, die italienische Frage, die bel¬ gische Frage, die polnische Frage. Es ist eine Art Salpeter-Säure, welche das Blut abkühlt, und das Herz ruhiger macht. Aus diesem diäteti¬
Gemüthsbewegungen ſeine zarte Geſundheit nicht ganz zu Grunde zu richten. Strenge Diät iſt ihm un¬ entbehrlich. Wenn daher Tauſende der edelſten Por¬ tugieſen vom Fleiſcher Miguel geſchlachtet und zer¬ fetzt werden; wenn die Italiener, von der Treibjagd der Liſt und Gewalt in ihr Todesnetz gejagt, von feigen und bequemen Jägern erlegt werden; wenn Belgien wie ein Käſe zerſchnitten, zugewogen und, in Protokoll-Papier gewickelt, den hungrigen Käufern ſtückweiſe eingehändigt wird; wenn Polen den Keu¬ lenſchlägen des Tyrannen unterliegt, und ſterbend den Helfers-Helfern flucht — wie wollen die Diplomaten es ertragen, täglich ſolche Gräuel und Schändlichkei¬ ten zu ſehen und zu hören? und doch iſt ihnen das Schickſal der Völker anvertraut; wie erleichtern ſie ſich den Schmerz? Durch eine einfache Veränderung der Worte. Sie ſtellen ſich an, als gäbe es kein Land und kein Volk in der Welt; ſie ſuchen das zu vergeſſen und es gelingt ihnen durch Uebung. Sie ſagen darum nie: Portugal und Portugieſen, Italien und Italiener, Belgien und Belgier, Polen und pol¬ niſches Land; ſondern ſie ſagen: die portugieſi¬ ſche Frage, die italieniſche Frage, die bel¬ giſche Frage, die polniſche Frage. Es iſt eine Art Salpeter-Säure, welche das Blut abkühlt, und das Herz ruhiger macht. Aus dieſem diäteti¬
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Gemüthsbewegungen ſeine zarte Geſundheit nicht ganz
zu Grunde zu richten. Strenge Diät iſt ihm un¬
entbehrlich. Wenn daher Tauſende der edelſten Por¬
tugieſen vom Fleiſcher Miguel geſchlachtet und zer¬
fetzt werden; wenn die Italiener, von der Treibjagd
der Liſt und Gewalt in ihr Todesnetz gejagt, von
feigen und bequemen Jägern erlegt werden; wenn
Belgien wie ein Käſe zerſchnitten, zugewogen und, in
Protokoll-Papier gewickelt, den hungrigen Käufern
ſtückweiſe eingehändigt wird; wenn Polen den Keu¬
lenſchlägen des Tyrannen unterliegt, und ſterbend den
Helfers-Helfern flucht — wie wollen die Diplomaten
es ertragen, täglich ſolche Gräuel und Schändlichkei¬
ten zu ſehen und zu hören? und doch iſt ihnen das
Schickſal der Völker anvertraut; wie erleichtern ſie
ſich den Schmerz? Durch eine einfache Veränderung
der Worte. Sie ſtellen ſich an, als gäbe es kein
Land und kein Volk in der Welt; ſie ſuchen das zu
vergeſſen und es gelingt ihnen durch Uebung. Sie
ſagen darum nie: Portugal und Portugieſen, Italien
und Italiener, Belgien und Belgier, Polen und pol¬
niſches Land; ſondern ſie ſagen: die portugieſi¬
ſche Frage, die italieniſche Frage, die bel¬
giſche Frage, die polniſche Frage. Es iſt
eine Art Salpeter-Säure, welche das Blut abkühlt,
und das Herz ruhiger macht. Aus dieſem diäteti¬
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Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 4. Offenbach, 1833, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boerne_paris04_1833/118>, abgerufen am 24.11.2024.
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