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Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 5. Paris, 1834.

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dem Angstgeschrei hinaus, Fenster auf, wir er¬
sticken
, konnte man kein Wort von den Verhandlun¬
gen hören. Einer hat seine Hand verloren, die ihm
zwischen Thüre und Angel zerquetscht wurde. Der
Angstruf: Fenster auf, wir ersticken, wurde
immer stärker und allgemeiner. Der Präsident er¬
klärte, er könne die Fenster nicht öffnen lassen; man
höre schon jetzt wenig, bei offnen Fenstern würde man
gar nichts hören. Da rief Einer: Herr Präsident,
ich rufe Sie zum Zeugen auf, daß ich er¬
sticke
! Endlich wurden die Fenster geöffnet, man
trieb den überflüssigen Theil des Publikums zum
Saale hinaus, und die Verhandlungen wurden ruhi¬
ger fortgesetzt. Aus dem, was ich davon in der
Gazette des Tribunaux gelesen, will ich Ihnen
einiges mittheilen. Dieses Blatt wird von Advoka¬
ten des Juste-Milieu redigirt. Nun kann man ihnen
zwar nicht vorwerfen, daß sie die gerichtlichen Ver¬
handlungen mit Partheilichkeit darstellten; keineswegs.
Ihre Nemesis legt in beiden Wagschalen gleiches Ge¬
wicht. Sie hält aber die Wage nicht mit der Hand,
sondern sie hängt ihr von der Nasenspitze herab, als
der rechten Mitte zwischen rechter und linker Hand,
welches zur Folge hat, daß so oft Nemesis die Nase
rümpft, die Wage etwas schwankt. Doch werde ich
das schon in Abzug bringen.

dem Angſtgeſchrei hinaus, Fenſter auf, wir er¬
ſticken
, konnte man kein Wort von den Verhandlun¬
gen hören. Einer hat ſeine Hand verloren, die ihm
zwiſchen Thüre und Angel zerquetſcht wurde. Der
Angſtruf: Fenſter auf, wir erſticken, wurde
immer ſtärker und allgemeiner. Der Präſident er¬
klärte, er könne die Fenſter nicht öffnen laſſen; man
höre ſchon jetzt wenig, bei offnen Fenſtern würde man
gar nichts hören. Da rief Einer: Herr Präſident,
ich rufe Sie zum Zeugen auf, daß ich er¬
ſticke
! Endlich wurden die Fenſter geöffnet, man
trieb den überflüſſigen Theil des Publikums zum
Saale hinaus, und die Verhandlungen wurden ruhi¬
ger fortgeſetzt. Aus dem, was ich davon in der
Gazette des Tribunaux geleſen, will ich Ihnen
einiges mittheilen. Dieſes Blatt wird von Advoka¬
ten des Juſte-Milieu redigirt. Nun kann man ihnen
zwar nicht vorwerfen, daß ſie die gerichtlichen Ver¬
handlungen mit Partheilichkeit darſtellten; keineswegs.
Ihre Nemeſis legt in beiden Wagſchalen gleiches Ge¬
wicht. Sie hält aber die Wage nicht mit der Hand,
ſondern ſie hängt ihr von der Naſenſpitze herab, als
der rechten Mitte zwiſchen rechter und linker Hand,
welches zur Folge hat, daß ſo oft Nemeſis die Naſe
rümpft, die Wage etwas ſchwankt. Doch werde ich
das ſchon in Abzug bringen.

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[133/0145] dem Angſtgeſchrei hinaus, Fenſter auf, wir er¬ ſticken, konnte man kein Wort von den Verhandlun¬ gen hören. Einer hat ſeine Hand verloren, die ihm zwiſchen Thüre und Angel zerquetſcht wurde. Der Angſtruf: Fenſter auf, wir erſticken, wurde immer ſtärker und allgemeiner. Der Präſident er¬ klärte, er könne die Fenſter nicht öffnen laſſen; man höre ſchon jetzt wenig, bei offnen Fenſtern würde man gar nichts hören. Da rief Einer: Herr Präſident, ich rufe Sie zum Zeugen auf, daß ich er¬ ſticke! Endlich wurden die Fenſter geöffnet, man trieb den überflüſſigen Theil des Publikums zum Saale hinaus, und die Verhandlungen wurden ruhi¬ ger fortgeſetzt. Aus dem, was ich davon in der Gazette des Tribunaux geleſen, will ich Ihnen einiges mittheilen. Dieſes Blatt wird von Advoka¬ ten des Juſte-Milieu redigirt. Nun kann man ihnen zwar nicht vorwerfen, daß ſie die gerichtlichen Ver¬ handlungen mit Partheilichkeit darſtellten; keineswegs. Ihre Nemeſis legt in beiden Wagſchalen gleiches Ge¬ wicht. Sie hält aber die Wage nicht mit der Hand, ſondern ſie hängt ihr von der Naſenſpitze herab, als der rechten Mitte zwiſchen rechter und linker Hand, welches zur Folge hat, daß ſo oft Nemeſis die Naſe rümpft, die Wage etwas ſchwankt. Doch werde ich das ſchon in Abzug bringen.

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Zitationshilfe: Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 5. Paris, 1834, S. 133. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boerne_paris05_1834/145>, abgerufen am 29.11.2024.