noch im höchsten Alter Bewunderer gefunden. Wie würden diese erst erstaunen, wenn sie heute lebten, und sähen, daß noch jetzt, nachdem Ninon länger als hundert Jahre todt ist, noch jeder Mann von Gefühl sie liebt? Es ist ein großer Streit unter den Gelehrten, in welchem Alter Ninon zum letzten male glücklich gewesen, ob in ihrem siebenzigsten oder in ihrem achtzigsten Jahre. Ich glaube aber weder das eine noch das andere; denn sie war neunzig Jahre alt als sie starb. Chesterfield fragte einmal eine Dame von vierundsiebenzig Jahren, in welchem Alter die Frauen zu lieben aufhörten? diese erwie¬ derte: Mylord, das weiß ich nicht, Sie müssen eine ältere fragen. Ninon's Haus hat drei Seiten, die nach drei verschiedenen Straßen gehen. Vorn nach dem Boulevard ist eine Hofmauer, vielleicht früher eine Gartenmauer, die zwei Pavillons verbindet. Den einen garstig roth angestrichen, verunziert eine Weinschenke der gemeinsten Art. Zu dem andern, höher auf einer Terrasse gelegen, der einen Balkon hat, davon herunter zu springen, führt von der Straße aus eine kleine, holde, anliebelnde Treppe, so eng, daß in dunkler Nacht ein gehender und ein kommender Liebhaber sich unmöglich hätten ausweichen können. Doch für solche Fälle war gesorgt. Auf der entgegengesetzten Seite nach einer andern Straße, hat das Haus noch eine Thüre. Da ist der Haupt¬
noch im höchſten Alter Bewunderer gefunden. Wie würden dieſe erſt erſtaunen, wenn ſie heute lebten, und ſähen, daß noch jetzt, nachdem Ninon länger als hundert Jahre todt iſt, noch jeder Mann von Gefühl ſie liebt? Es iſt ein großer Streit unter den Gelehrten, in welchem Alter Ninon zum letzten male glücklich geweſen, ob in ihrem ſiebenzigſten oder in ihrem achtzigſten Jahre. Ich glaube aber weder das eine noch das andere; denn ſie war neunzig Jahre alt als ſie ſtarb. Cheſterfield fragte einmal eine Dame von vierundſiebenzig Jahren, in welchem Alter die Frauen zu lieben aufhörten? dieſe erwie¬ derte: Mylord, das weiß ich nicht, Sie müſſen eine ältere fragen. Ninon's Haus hat drei Seiten, die nach drei verſchiedenen Straßen gehen. Vorn nach dem Boulevard iſt eine Hofmauer, vielleicht früher eine Gartenmauer, die zwei Pavillons verbindet. Den einen garſtig roth angeſtrichen, verunziert eine Weinſchenke der gemeinſten Art. Zu dem andern, höher auf einer Terraſſe gelegen, der einen Balkon hat, davon herunter zu ſpringen, führt von der Straße aus eine kleine, holde, anliebelnde Treppe, ſo eng, daß in dunkler Nacht ein gehender und ein kommender Liebhaber ſich unmöglich hätten ausweichen können. Doch für ſolche Fälle war geſorgt. Auf der entgegengeſetzten Seite nach einer andern Straße, hat das Haus noch eine Thüre. Da iſt der Haupt¬
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noch im höchſten Alter Bewunderer gefunden. Wie
würden dieſe erſt erſtaunen, wenn ſie heute lebten,
und ſähen, daß noch jetzt, nachdem Ninon länger
als hundert Jahre todt iſt, noch jeder Mann von
Gefühl ſie liebt? Es iſt ein großer Streit unter
den Gelehrten, in welchem Alter Ninon zum letzten
male glücklich geweſen, ob in ihrem ſiebenzigſten oder
in ihrem achtzigſten Jahre. Ich glaube aber weder
das eine noch das andere; denn ſie war neunzig
Jahre alt als ſie ſtarb. Cheſterfield fragte einmal
eine Dame von vierundſiebenzig Jahren, in welchem
Alter die Frauen zu lieben aufhörten? dieſe erwie¬
derte: Mylord, das weiß ich nicht, Sie müſſen eine
ältere fragen. Ninon's Haus hat drei Seiten, die
nach drei verſchiedenen Straßen gehen. Vorn nach
dem Boulevard iſt eine Hofmauer, vielleicht früher
eine Gartenmauer, die zwei Pavillons verbindet.
Den einen garſtig roth angeſtrichen, verunziert eine
Weinſchenke der gemeinſten Art. Zu dem andern,
höher auf einer Terraſſe gelegen, der einen Balkon
hat, davon herunter zu ſpringen, führt von der
Straße aus eine kleine, holde, anliebelnde Treppe,
ſo eng, daß in dunkler Nacht ein gehender und ein
kommender Liebhaber ſich unmöglich hätten ausweichen
können. Doch für ſolche Fälle war geſorgt. Auf
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hat das Haus noch eine Thüre. Da iſt der Haupt¬
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Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 6. Paris, 1834, S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boerne_paris06_1834/30>, abgerufen am 18.07.2024.
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