Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895.pbo_108.001 pbo_108.027 pbo_108.001 pbo_108.027 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <pb facs="#f0112" n="108"/> <p><lb n="pbo_108.001"/> Das Jnteresse richtet sich im Drama nicht mehr auf die <lb n="pbo_108.002"/> Persönlichkeit des Dichters, der das Weltbild in sich trägt, <lb n="pbo_108.003"/> sondern es geht auf Persönlichkeiten, die, von ihm losgelöst, <lb n="pbo_108.004"/> das Weltbild „durchführen“, in ihrem Handeln zur Darstellung <lb n="pbo_108.005"/> bringen. Daß hinter diesen Personen der Dichter steht, tritt <lb n="pbo_108.006"/> vollständig zurück. Man soll es vergessen. Man soll <hi rendition="#g">ihn,</hi> <lb n="pbo_108.007"/> den Dichter vor allen Dingen, seine besondere Geistesanlage, <lb n="pbo_108.008"/> sein besonderes Verhältnis zu Welt und Menschen vollständig <lb n="pbo_108.009"/> vergessen eben über der Welt und den Menschen, die er im <lb n="pbo_108.010"/> Drama sich gestalten läßt. Diese Welt, diese Menschen tragen <lb n="pbo_108.011"/> ihre Bezüge, ihren Charakter <hi rendition="#g">in sich.</hi> Es ist die höchste <lb n="pbo_108.012"/> Kunst des Dramatikers, diese Welt und ihren Charakter <hi rendition="#g">so</hi> <lb n="pbo_108.013"/> zum Ausdruck zu bringen, <hi rendition="#g">wie er in sich ist.</hi> Nicht jeder <lb n="pbo_108.014"/> Mensch, der die Welt eben so sieht, wie sie dem platten Auge <lb n="pbo_108.015"/> erscheint, sieht die Welt, wie sie ist, wie sie eigentlich in sich <lb n="pbo_108.016"/> ist. Das ist es, was uns so überwältigend an den entscheidenden <lb n="pbo_108.017"/> Stellen großer Dramen überkommt, daß uns dann <lb n="pbo_108.018"/> für Momente die Binde vom Auge fällt und wir uns wie <lb n="pbo_108.019"/> im Kern der Welt fühlen. Jn Shakespeare ist diese besondere <lb n="pbo_108.020"/> dramatische Kraft des Poeten so stark wirksam, daß seine <lb n="pbo_108.021"/> Person jetzt nach dreihundert Jahren beinahe so zur Mythe <lb n="pbo_108.022"/> geworden ist, wie dem Altertum bereits der Name seines <lb n="pbo_108.023"/> großen Epikers, des Homer. Ein blinder Bettelpoet, meint <lb n="pbo_108.024"/> man, könne den Glanz des Homerischen Epos nicht ersonnen <lb n="pbo_108.025"/> haben, ein ungelehrter Schauspieler nicht die Tiefe des <lb n="pbo_108.026"/> Shakespeareschen Dramas.</p> <p><lb n="pbo_108.027"/> Das Drama ist also seiner poetischen Jdee nach ein <lb n="pbo_108.028"/> Weltbild <hi rendition="#g">für sich</hi> (ohne poetische Rahmen), und die Personen <lb n="pbo_108.029"/> in ihm handeln <hi rendition="#g">unter sich</hi> (ohne den Dichter). Das was <lb n="pbo_108.030"/> dieses Kunstwerk zusammenhält, muß demnach ganz in dasselbe <lb n="pbo_108.031"/> hineinfallen. Strenger als in jedem andern poetischen </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [108/0112]
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Das Jnteresse richtet sich im Drama nicht mehr auf die pbo_108.002
Persönlichkeit des Dichters, der das Weltbild in sich trägt, pbo_108.003
sondern es geht auf Persönlichkeiten, die, von ihm losgelöst, pbo_108.004
das Weltbild „durchführen“, in ihrem Handeln zur Darstellung pbo_108.005
bringen. Daß hinter diesen Personen der Dichter steht, tritt pbo_108.006
vollständig zurück. Man soll es vergessen. Man soll ihn, pbo_108.007
den Dichter vor allen Dingen, seine besondere Geistesanlage, pbo_108.008
sein besonderes Verhältnis zu Welt und Menschen vollständig pbo_108.009
vergessen eben über der Welt und den Menschen, die er im pbo_108.010
Drama sich gestalten läßt. Diese Welt, diese Menschen tragen pbo_108.011
ihre Bezüge, ihren Charakter in sich. Es ist die höchste pbo_108.012
Kunst des Dramatikers, diese Welt und ihren Charakter so pbo_108.013
zum Ausdruck zu bringen, wie er in sich ist. Nicht jeder pbo_108.014
Mensch, der die Welt eben so sieht, wie sie dem platten Auge pbo_108.015
erscheint, sieht die Welt, wie sie ist, wie sie eigentlich in sich pbo_108.016
ist. Das ist es, was uns so überwältigend an den entscheidenden pbo_108.017
Stellen großer Dramen überkommt, daß uns dann pbo_108.018
für Momente die Binde vom Auge fällt und wir uns wie pbo_108.019
im Kern der Welt fühlen. Jn Shakespeare ist diese besondere pbo_108.020
dramatische Kraft des Poeten so stark wirksam, daß seine pbo_108.021
Person jetzt nach dreihundert Jahren beinahe so zur Mythe pbo_108.022
geworden ist, wie dem Altertum bereits der Name seines pbo_108.023
großen Epikers, des Homer. Ein blinder Bettelpoet, meint pbo_108.024
man, könne den Glanz des Homerischen Epos nicht ersonnen pbo_108.025
haben, ein ungelehrter Schauspieler nicht die Tiefe des pbo_108.026
Shakespeareschen Dramas.
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Das Drama ist also seiner poetischen Jdee nach ein pbo_108.028
Weltbild für sich (ohne poetische Rahmen), und die Personen pbo_108.029
in ihm handeln unter sich (ohne den Dichter). Das was pbo_108.030
dieses Kunstwerk zusammenhält, muß demnach ganz in dasselbe pbo_108.031
hineinfallen. Strenger als in jedem andern poetischen
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