Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895.

Bild:
<< vorherige Seite

pbo_016.001
künstlerische Darstellungsweise, der Stil, ein für allemal pbo_016.002
gegeben und einheitlich geregelt. So vielumfassend, wie wir pbo_016.003
die Anschauung kennen lernten, so verschieden und wechselvoll pbo_016.004
kann die Art sein, wie sie in großen künstlerischen Persönlichkeiten pbo_016.005
bei verschiedenen Völkern und zu verschiedenen Zeiten pbo_016.006
zum Ausdruck gelangt. Gewiß offenbart sich auch hier im pbo_016.007
großen ein Unterschied zwischen den einfachen, festumrissenen pbo_016.008
Verhältnissen, die das Altertum, und den vielverschränkten, an pbo_016.009
Kontrasten und Schattierungen überreichen, die die neueren pbo_016.010
Zeiten der Kunst darbieten. Der religiöse Grundgegensatz pbo_016.011
zwischen Heidentum und Christentum tritt hinzu. Shakespeare pbo_016.012
führt eine andere Welt vor, als die alten griechischen Tragiker. pbo_016.013
Gleichwohl, wenn sie auch anders erscheint und er sie auch pbo_016.014
anders vorführt, das künstlerische Formungsprinzip ist dasselbe. pbo_016.015
Fr. Theodor Vischer konnte in seiner Aesthetik in pbo_016.016
diesem Sinne von direktem (unmittelbarem) und indirektem pbo_016.017
(vermitteltem) Jdealismus reden und den Nachweis pbo_016.018
dieses Stilunterschieds durch die Geschichte aller Künste durchführen. pbo_016.019
(Schöner und Charakterisierender Stil). Heute liebt pbo_016.020
man im Gegensatz dazu alles vom Standpunkt des oben als pbo_016.021
Jrrtum erwiesenen falschen Naturalismus aufzufassen, der sich pbo_016.022
dann auch gern vornehmer Realismus nennt. Realistisch pbo_016.023
(naiv im allgemeinen geistigen Verstande) sind aber gerade pbo_016.024
die Griechen, deren Kunst das ideale Formungsprinzip am pbo_016.025
strengsten darstellt.

pbo_016.026
§ 10. Antik und Modern.

pbo_016.027
Das Antike kann demnach sehr wohl als Kunstprinzip pbo_016.028
hingestellt werden ("gleich einem gewissen Adel unter den pbo_016.029
Schriftstellern" sagt Kant). Jm Gegensatz dazu aber von pbo_016.030
einem modernen Prinzip der Kunst ("der Moderne")

pbo_016.001
künstlerische Darstellungsweise, der Stil, ein für allemal pbo_016.002
gegeben und einheitlich geregelt. So vielumfassend, wie wir pbo_016.003
die Anschauung kennen lernten, so verschieden und wechselvoll pbo_016.004
kann die Art sein, wie sie in großen künstlerischen Persönlichkeiten pbo_016.005
bei verschiedenen Völkern und zu verschiedenen Zeiten pbo_016.006
zum Ausdruck gelangt. Gewiß offenbart sich auch hier im pbo_016.007
großen ein Unterschied zwischen den einfachen, festumrissenen pbo_016.008
Verhältnissen, die das Altertum, und den vielverschränkten, an pbo_016.009
Kontrasten und Schattierungen überreichen, die die neueren pbo_016.010
Zeiten der Kunst darbieten. Der religiöse Grundgegensatz pbo_016.011
zwischen Heidentum und Christentum tritt hinzu. Shakespeare pbo_016.012
führt eine andere Welt vor, als die alten griechischen Tragiker. pbo_016.013
Gleichwohl, wenn sie auch anders erscheint und er sie auch pbo_016.014
anders vorführt, das künstlerische Formungsprinzip ist dasselbe. pbo_016.015
Fr. Theodor Vischer konnte in seiner Aesthetik in pbo_016.016
diesem Sinne von direktem (unmittelbarem) und indirektem pbo_016.017
(vermitteltem) Jdealismus reden und den Nachweis pbo_016.018
dieses Stilunterschieds durch die Geschichte aller Künste durchführen. pbo_016.019
(Schöner und Charakterisierender Stil). Heute liebt pbo_016.020
man im Gegensatz dazu alles vom Standpunkt des oben als pbo_016.021
Jrrtum erwiesenen falschen Naturalismus aufzufassen, der sich pbo_016.022
dann auch gern vornehmer Realismus nennt. Realistisch pbo_016.023
(naiv im allgemeinen geistigen Verstande) sind aber gerade pbo_016.024
die Griechen, deren Kunst das ideale Formungsprinzip am pbo_016.025
strengsten darstellt.

pbo_016.026
§ 10. Antik und Modern.

pbo_016.027
Das Antike kann demnach sehr wohl als Kunstprinzip pbo_016.028
hingestellt werden („gleich einem gewissen Adel unter den pbo_016.029
Schriftstellern“ sagt Kant). Jm Gegensatz dazu aber von pbo_016.030
einem modernen Prinzip der Kunst („der Moderne“)

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0020" n="16"/><lb n="pbo_016.001"/>
künstlerische <hi rendition="#g">Darstellungsweise, der Stil,</hi> ein für allemal <lb n="pbo_016.002"/>
gegeben und einheitlich geregelt. So vielumfassend, wie wir <lb n="pbo_016.003"/>
die Anschauung kennen lernten, so verschieden und wechselvoll <lb n="pbo_016.004"/>
kann die Art sein, wie sie in großen künstlerischen Persönlichkeiten <lb n="pbo_016.005"/>
bei verschiedenen Völkern und zu verschiedenen Zeiten <lb n="pbo_016.006"/>
zum Ausdruck gelangt. Gewiß offenbart sich auch hier im <lb n="pbo_016.007"/>
großen ein Unterschied zwischen den einfachen, festumrissenen <lb n="pbo_016.008"/>
Verhältnissen, die das Altertum, und den vielverschränkten, an <lb n="pbo_016.009"/>
Kontrasten und Schattierungen überreichen, die die neueren <lb n="pbo_016.010"/>
Zeiten der Kunst darbieten. Der religiöse Grundgegensatz <lb n="pbo_016.011"/>
zwischen Heidentum und Christentum tritt hinzu. Shakespeare <lb n="pbo_016.012"/>
führt eine andere Welt vor, als die alten griechischen Tragiker. <lb n="pbo_016.013"/>
Gleichwohl, wenn sie auch anders erscheint und er sie auch <lb n="pbo_016.014"/>
anders vorführt, das künstlerische Formungsprinzip ist dasselbe. <lb n="pbo_016.015"/>
Fr. Theodor Vischer konnte in seiner Aesthetik in <lb n="pbo_016.016"/>
diesem Sinne von <hi rendition="#g">direktem</hi> (unmittelbarem) und <hi rendition="#g">indirektem</hi> <lb n="pbo_016.017"/>
(vermitteltem) <hi rendition="#g">Jdealismus</hi> reden und den Nachweis <lb n="pbo_016.018"/>
dieses Stilunterschieds durch die Geschichte aller Künste durchführen. <lb n="pbo_016.019"/>
(Schöner und Charakterisierender Stil). Heute liebt <lb n="pbo_016.020"/>
man im Gegensatz dazu alles vom Standpunkt des oben als <lb n="pbo_016.021"/>
Jrrtum erwiesenen falschen Naturalismus aufzufassen, der sich <lb n="pbo_016.022"/>
dann auch gern vornehmer <hi rendition="#g">Realismus</hi> nennt. Realistisch <lb n="pbo_016.023"/>
(<hi rendition="#g">naiv</hi> im allgemeinen geistigen Verstande) sind aber gerade <lb n="pbo_016.024"/>
die Griechen, deren Kunst das ideale Formungsprinzip am <lb n="pbo_016.025"/>
strengsten darstellt.</p>
            </div>
            <div n="4">
              <lb n="pbo_016.026"/>
              <head> <hi rendition="#c">§ 10. Antik und Modern.</hi> </head>
              <p><lb n="pbo_016.027"/>
Das <hi rendition="#g">Antike</hi> kann demnach sehr wohl als Kunstprinzip <lb n="pbo_016.028"/>
hingestellt werden (&#x201E;gleich einem gewissen Adel unter den <lb n="pbo_016.029"/>
Schriftstellern&#x201C; sagt Kant). Jm Gegensatz dazu aber von <lb n="pbo_016.030"/>
einem modernen <hi rendition="#g">Prinzip</hi> der Kunst (&#x201E;<hi rendition="#g">der Moderne</hi>&#x201C;)
</p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[16/0020] pbo_016.001 künstlerische Darstellungsweise, der Stil, ein für allemal pbo_016.002 gegeben und einheitlich geregelt. So vielumfassend, wie wir pbo_016.003 die Anschauung kennen lernten, so verschieden und wechselvoll pbo_016.004 kann die Art sein, wie sie in großen künstlerischen Persönlichkeiten pbo_016.005 bei verschiedenen Völkern und zu verschiedenen Zeiten pbo_016.006 zum Ausdruck gelangt. Gewiß offenbart sich auch hier im pbo_016.007 großen ein Unterschied zwischen den einfachen, festumrissenen pbo_016.008 Verhältnissen, die das Altertum, und den vielverschränkten, an pbo_016.009 Kontrasten und Schattierungen überreichen, die die neueren pbo_016.010 Zeiten der Kunst darbieten. Der religiöse Grundgegensatz pbo_016.011 zwischen Heidentum und Christentum tritt hinzu. Shakespeare pbo_016.012 führt eine andere Welt vor, als die alten griechischen Tragiker. pbo_016.013 Gleichwohl, wenn sie auch anders erscheint und er sie auch pbo_016.014 anders vorführt, das künstlerische Formungsprinzip ist dasselbe. pbo_016.015 Fr. Theodor Vischer konnte in seiner Aesthetik in pbo_016.016 diesem Sinne von direktem (unmittelbarem) und indirektem pbo_016.017 (vermitteltem) Jdealismus reden und den Nachweis pbo_016.018 dieses Stilunterschieds durch die Geschichte aller Künste durchführen. pbo_016.019 (Schöner und Charakterisierender Stil). Heute liebt pbo_016.020 man im Gegensatz dazu alles vom Standpunkt des oben als pbo_016.021 Jrrtum erwiesenen falschen Naturalismus aufzufassen, der sich pbo_016.022 dann auch gern vornehmer Realismus nennt. Realistisch pbo_016.023 (naiv im allgemeinen geistigen Verstande) sind aber gerade pbo_016.024 die Griechen, deren Kunst das ideale Formungsprinzip am pbo_016.025 strengsten darstellt. pbo_016.026 § 10. Antik und Modern. pbo_016.027 Das Antike kann demnach sehr wohl als Kunstprinzip pbo_016.028 hingestellt werden („gleich einem gewissen Adel unter den pbo_016.029 Schriftstellern“ sagt Kant). Jm Gegensatz dazu aber von pbo_016.030 einem modernen Prinzip der Kunst („der Moderne“)

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: manuell (doppelt erfasst).

Bogensignaturen: nicht übernommen; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): gekennzeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: DTABf-getreu; Zeilenumbrüche markiert: ja;

Hervorhebungen durch Wechsel von Fraktur zu Antiqua: nicht gekennzeichnet




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/borinski_poetik_1895
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/borinski_poetik_1895/20
Zitationshilfe: Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/borinski_poetik_1895/20>, abgerufen am 21.11.2024.