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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 6. Hildburghausen, 1869.

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Beschleunigung und Verzögerung der Entwickelung. Ueberwinterung.
Jahrestemperatur auf die Entwickelung der Jnsekten überzeugt, wenn wir uns nach einem um-
sehen, welches eine große Verbreitung auf der Erdoberfläche hat und in verschiedenen Klimaten
zugleich lebt. Der schon oben erwähnte Kohlweißling ist ein solches. Jm mittleren und nörd-
lichen Deutschland fliegt er zum ersten Male im günstigsten Falle in der zweiten Hälfte des April
und dann nochmals vor Ende Juni bis in den September und überwintert unter allen Umständen
als Puppe. Auf Sicilien, wo dieser Proletarier auch vorkommt, fliegt er vom November bis
Januar. Bei uns geht seine Raupe im Winter allemal zu Grunde, während andere Arten nur
als Raupen überwintern; auf Sicilien kann sie die Kälte des gelinderen Winters ertragen. Man
könnte nun glauben, daß in den tropischen Ländern, wo die Temperaturunterschiede weit geringer
sind, als in den gemäßigten und kalten Zonen, die Entwickelung der Jnsekten in gleichmäßiger
Weise vor sich ginge und nur von der jeder Art eigenthümlichen Natur bedingt wäre. Abgesehen
davon, daß, wie schon oben erwähnt wurde, auch das Futter für die Larve eine bedeutende Rolle,
ja die wesentlichste in der Entwickelungsgeschichte spielt und in dieser Hinsicht die Tropenländer
sich das ganze Jahr hindurch nicht gleichbleiben, kommen auch hier ganz ähnliche Verhältnisse vor,
wie bei uns. Moritz erzählt z. B. von einem gesellschaftlich lebenden Spinner in Caracas, der sich
zwar im November einspinne, aber nicht verpuppe, sondern erst mit Beginn der Regenzeit im Mai
zur Entwickelung gelange; er erzählt weiter, wie ein anderer olivengrüner Spinner aus dem weit
verbreiteten Geschlecht Saturnia sehr ungleichmäßig aus der Puppe käme. Einen Monat nach der
Verpuppung erschien ein Männchen im Oktober, dann ein Weibchen im Dezember, im Februar
folgten mehrere Stücke beiderlei Geschlechts und noch waren andere lebende Puppen übrig, als er
Ende des genannten Monats seinen Brief nach Europa abschickte. Wollen wir in solchen und
ähnlichen Fällen -- ein noch eigenthümlicherer wurde ja oben schon erwähnt -- einen Grund für
so auffallende Unregelmäßigkeiten suchen, so wäre es kein anderer als der: die Natur will die
Erhaltung der Art dadurch sicher stellen; geht irgendwie das Thier in seiner normalen Entwickelung
zu Grunde, so bleiben andere übrig, die sich dem Gesetze nicht fügten.

Für die Länder mit einem Winter, den Frost und Schnee kennzeichnen, verschwindet zwar
während desselben alles insektische Leben unseren Augen, daß es aber nicht aufgehört habe, lehrt
jedes darauf folgende Frühjahr von Neuem. Die einen überwintern nur im Eizustande, andere
nur als Larven, wozu selbstverständlich alle die gehören, welche zwei und mehr Jahre zu ihrer
Entwickelung bedürfen, eine dritte Reihe überlebt die böse Jahreszeit als Puppe, eine vierte als
Jmago. Nur in seltenen Fällen dürfte ein und dasselbe Jnsekt auf zwei verschiedenen Entwicke-
lungsstufen die in Rede stehende Jahreszeit verbringen. Wer übrigens einen Begriff davon haben
will, wie viele von ihnen im vollkommenen Zustande einen Winterschlaf halten, der gehe nur hin
im Herbste, wo die Erstarrung noch nicht eingetreten ist und suche im Walde unter dem dürren
Laube nach, das sich seit Jahren angesammelt hat, oder unter dem trocknen Gestrüpp von Sträuchern,
die an einer geschützten Stelle wachsen, oder unter Steinen und ähnlichen Orten, welche dem scharfen
Luftzuge nicht ausgesetzt sind, da wird er eine ungeahnte Mannigfaltigkeit von Käfern und Fliegen,
Wespen und Spinnen, Wanzen und anderem Geziefer finden, hie und da einen Nachtschmetterling
aus dem dürren Laube herausspazieren sehen, alle aber bemüht, sich so schnell wie möglich seinen
Blicken wieder zu entziehen. Manche bekannte Erscheinungen sind vielleicht darunter, die man in
der besseren Jahreszeit anderwärts zu sehen gewohnt ist, aber auch viele, die dergleichen Schlupf-
winkel zu ihrem stehenden Aufenthaltsorte wählen und kaum je an das Tageslicht kommen. Ein
Paar Maikäferflügel, eine halb verschimmelte Hornisse ohne Beine und sonstige Ueberreste könnten
glauben machen, daß man hier in einen großen Begräbnißplatz dieser kleinen Wesen gerathen sei,
und daß über Winter keines mit dem Leben davon komme. Wohlan, gehe zum zweiten Male
dorthin, wenn jener sich verabschieden will, wenn Frost und Schnee es gestatten, einige Hände
voll zerkrümelten Laubes beizustecken in einem wohlverwahrten Säcklein, und trage es heim.
Schüttet man den Jnhalt, nachdem er einige Stunden in der warmen Stube gelegen, in ein

Beſchleunigung und Verzögerung der Entwickelung. Ueberwinterung.
Jahrestemperatur auf die Entwickelung der Jnſekten überzeugt, wenn wir uns nach einem um-
ſehen, welches eine große Verbreitung auf der Erdoberfläche hat und in verſchiedenen Klimaten
zugleich lebt. Der ſchon oben erwähnte Kohlweißling iſt ein ſolches. Jm mittleren und nörd-
lichen Deutſchland fliegt er zum erſten Male im günſtigſten Falle in der zweiten Hälfte des April
und dann nochmals vor Ende Juni bis in den September und überwintert unter allen Umſtänden
als Puppe. Auf Sicilien, wo dieſer Proletarier auch vorkommt, fliegt er vom November bis
Januar. Bei uns geht ſeine Raupe im Winter allemal zu Grunde, während andere Arten nur
als Raupen überwintern; auf Sicilien kann ſie die Kälte des gelinderen Winters ertragen. Man
könnte nun glauben, daß in den tropiſchen Ländern, wo die Temperaturunterſchiede weit geringer
ſind, als in den gemäßigten und kalten Zonen, die Entwickelung der Jnſekten in gleichmäßiger
Weiſe vor ſich ginge und nur von der jeder Art eigenthümlichen Natur bedingt wäre. Abgeſehen
davon, daß, wie ſchon oben erwähnt wurde, auch das Futter für die Larve eine bedeutende Rolle,
ja die weſentlichſte in der Entwickelungsgeſchichte ſpielt und in dieſer Hinſicht die Tropenländer
ſich das ganze Jahr hindurch nicht gleichbleiben, kommen auch hier ganz ähnliche Verhältniſſe vor,
wie bei uns. Moritz erzählt z. B. von einem geſellſchaftlich lebenden Spinner in Caracas, der ſich
zwar im November einſpinne, aber nicht verpuppe, ſondern erſt mit Beginn der Regenzeit im Mai
zur Entwickelung gelange; er erzählt weiter, wie ein anderer olivengrüner Spinner aus dem weit
verbreiteten Geſchlecht Saturnia ſehr ungleichmäßig aus der Puppe käme. Einen Monat nach der
Verpuppung erſchien ein Männchen im Oktober, dann ein Weibchen im Dezember, im Februar
folgten mehrere Stücke beiderlei Geſchlechts und noch waren andere lebende Puppen übrig, als er
Ende des genannten Monats ſeinen Brief nach Europa abſchickte. Wollen wir in ſolchen und
ähnlichen Fällen — ein noch eigenthümlicherer wurde ja oben ſchon erwähnt — einen Grund für
ſo auffallende Unregelmäßigkeiten ſuchen, ſo wäre es kein anderer als der: die Natur will die
Erhaltung der Art dadurch ſicher ſtellen; geht irgendwie das Thier in ſeiner normalen Entwickelung
zu Grunde, ſo bleiben andere übrig, die ſich dem Geſetze nicht fügten.

Für die Länder mit einem Winter, den Froſt und Schnee kennzeichnen, verſchwindet zwar
während deſſelben alles inſektiſche Leben unſeren Augen, daß es aber nicht aufgehört habe, lehrt
jedes darauf folgende Frühjahr von Neuem. Die einen überwintern nur im Eizuſtande, andere
nur als Larven, wozu ſelbſtverſtändlich alle die gehören, welche zwei und mehr Jahre zu ihrer
Entwickelung bedürfen, eine dritte Reihe überlebt die böſe Jahreszeit als Puppe, eine vierte als
Jmago. Nur in ſeltenen Fällen dürfte ein und daſſelbe Jnſekt auf zwei verſchiedenen Entwicke-
lungsſtufen die in Rede ſtehende Jahreszeit verbringen. Wer übrigens einen Begriff davon haben
will, wie viele von ihnen im vollkommenen Zuſtande einen Winterſchlaf halten, der gehe nur hin
im Herbſte, wo die Erſtarrung noch nicht eingetreten iſt und ſuche im Walde unter dem dürren
Laube nach, das ſich ſeit Jahren angeſammelt hat, oder unter dem trocknen Geſtrüpp von Sträuchern,
die an einer geſchützten Stelle wachſen, oder unter Steinen und ähnlichen Orten, welche dem ſcharfen
Luftzuge nicht ausgeſetzt ſind, da wird er eine ungeahnte Mannigfaltigkeit von Käfern und Fliegen,
Wespen und Spinnen, Wanzen und anderem Geziefer finden, hie und da einen Nachtſchmetterling
aus dem dürren Laube herausſpazieren ſehen, alle aber bemüht, ſich ſo ſchnell wie möglich ſeinen
Blicken wieder zu entziehen. Manche bekannte Erſcheinungen ſind vielleicht darunter, die man in
der beſſeren Jahreszeit anderwärts zu ſehen gewohnt iſt, aber auch viele, die dergleichen Schlupf-
winkel zu ihrem ſtehenden Aufenthaltsorte wählen und kaum je an das Tageslicht kommen. Ein
Paar Maikäferflügel, eine halb verſchimmelte Horniſſe ohne Beine und ſonſtige Ueberreſte könnten
glauben machen, daß man hier in einen großen Begräbnißplatz dieſer kleinen Weſen gerathen ſei,
und daß über Winter keines mit dem Leben davon komme. Wohlan, gehe zum zweiten Male
dorthin, wenn jener ſich verabſchieden will, wenn Froſt und Schnee es geſtatten, einige Hände
voll zerkrümelten Laubes beizuſtecken in einem wohlverwahrten Säcklein, und trage es heim.
Schüttet man den Jnhalt, nachdem er einige Stunden in der warmen Stube gelegen, in ein

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[21/0033] Beſchleunigung und Verzögerung der Entwickelung. Ueberwinterung. Jahrestemperatur auf die Entwickelung der Jnſekten überzeugt, wenn wir uns nach einem um- ſehen, welches eine große Verbreitung auf der Erdoberfläche hat und in verſchiedenen Klimaten zugleich lebt. Der ſchon oben erwähnte Kohlweißling iſt ein ſolches. Jm mittleren und nörd- lichen Deutſchland fliegt er zum erſten Male im günſtigſten Falle in der zweiten Hälfte des April und dann nochmals vor Ende Juni bis in den September und überwintert unter allen Umſtänden als Puppe. Auf Sicilien, wo dieſer Proletarier auch vorkommt, fliegt er vom November bis Januar. Bei uns geht ſeine Raupe im Winter allemal zu Grunde, während andere Arten nur als Raupen überwintern; auf Sicilien kann ſie die Kälte des gelinderen Winters ertragen. Man könnte nun glauben, daß in den tropiſchen Ländern, wo die Temperaturunterſchiede weit geringer ſind, als in den gemäßigten und kalten Zonen, die Entwickelung der Jnſekten in gleichmäßiger Weiſe vor ſich ginge und nur von der jeder Art eigenthümlichen Natur bedingt wäre. Abgeſehen davon, daß, wie ſchon oben erwähnt wurde, auch das Futter für die Larve eine bedeutende Rolle, ja die weſentlichſte in der Entwickelungsgeſchichte ſpielt und in dieſer Hinſicht die Tropenländer ſich das ganze Jahr hindurch nicht gleichbleiben, kommen auch hier ganz ähnliche Verhältniſſe vor, wie bei uns. Moritz erzählt z. B. von einem geſellſchaftlich lebenden Spinner in Caracas, der ſich zwar im November einſpinne, aber nicht verpuppe, ſondern erſt mit Beginn der Regenzeit im Mai zur Entwickelung gelange; er erzählt weiter, wie ein anderer olivengrüner Spinner aus dem weit verbreiteten Geſchlecht Saturnia ſehr ungleichmäßig aus der Puppe käme. Einen Monat nach der Verpuppung erſchien ein Männchen im Oktober, dann ein Weibchen im Dezember, im Februar folgten mehrere Stücke beiderlei Geſchlechts und noch waren andere lebende Puppen übrig, als er Ende des genannten Monats ſeinen Brief nach Europa abſchickte. Wollen wir in ſolchen und ähnlichen Fällen — ein noch eigenthümlicherer wurde ja oben ſchon erwähnt — einen Grund für ſo auffallende Unregelmäßigkeiten ſuchen, ſo wäre es kein anderer als der: die Natur will die Erhaltung der Art dadurch ſicher ſtellen; geht irgendwie das Thier in ſeiner normalen Entwickelung zu Grunde, ſo bleiben andere übrig, die ſich dem Geſetze nicht fügten. Für die Länder mit einem Winter, den Froſt und Schnee kennzeichnen, verſchwindet zwar während deſſelben alles inſektiſche Leben unſeren Augen, daß es aber nicht aufgehört habe, lehrt jedes darauf folgende Frühjahr von Neuem. Die einen überwintern nur im Eizuſtande, andere nur als Larven, wozu ſelbſtverſtändlich alle die gehören, welche zwei und mehr Jahre zu ihrer Entwickelung bedürfen, eine dritte Reihe überlebt die böſe Jahreszeit als Puppe, eine vierte als Jmago. Nur in ſeltenen Fällen dürfte ein und daſſelbe Jnſekt auf zwei verſchiedenen Entwicke- lungsſtufen die in Rede ſtehende Jahreszeit verbringen. Wer übrigens einen Begriff davon haben will, wie viele von ihnen im vollkommenen Zuſtande einen Winterſchlaf halten, der gehe nur hin im Herbſte, wo die Erſtarrung noch nicht eingetreten iſt und ſuche im Walde unter dem dürren Laube nach, das ſich ſeit Jahren angeſammelt hat, oder unter dem trocknen Geſtrüpp von Sträuchern, die an einer geſchützten Stelle wachſen, oder unter Steinen und ähnlichen Orten, welche dem ſcharfen Luftzuge nicht ausgeſetzt ſind, da wird er eine ungeahnte Mannigfaltigkeit von Käfern und Fliegen, Wespen und Spinnen, Wanzen und anderem Geziefer finden, hie und da einen Nachtſchmetterling aus dem dürren Laube herausſpazieren ſehen, alle aber bemüht, ſich ſo ſchnell wie möglich ſeinen Blicken wieder zu entziehen. Manche bekannte Erſcheinungen ſind vielleicht darunter, die man in der beſſeren Jahreszeit anderwärts zu ſehen gewohnt iſt, aber auch viele, die dergleichen Schlupf- winkel zu ihrem ſtehenden Aufenthaltsorte wählen und kaum je an das Tageslicht kommen. Ein Paar Maikäferflügel, eine halb verſchimmelte Horniſſe ohne Beine und ſonſtige Ueberreſte könnten glauben machen, daß man hier in einen großen Begräbnißplatz dieſer kleinen Weſen gerathen ſei, und daß über Winter keines mit dem Leben davon komme. Wohlan, gehe zum zweiten Male dorthin, wenn jener ſich verabſchieden will, wenn Froſt und Schnee es geſtatten, einige Hände voll zerkrümelten Laubes beizuſtecken in einem wohlverwahrten Säcklein, und trage es heim. Schüttet man den Jnhalt, nachdem er einige Stunden in der warmen Stube gelegen, in ein

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 6. Hildburghausen, 1869, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben06_1869/33>, abgerufen am 23.11.2024.