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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 6. Hildburghausen, 1869.

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Allgemeines über die Räderthiere.
anzunehmen, daß sowohl die panzerartigen als weichen Hautbedeckungen aus jener die Glieder-
thiere charakterisirenden Substanz, dem Chitin, bestehen. Der Panzer unseres Musterthierchens
ist vorn zierlich ausgeschweift und mit hornartigen Fortsätzen versehen. Unter ihm kann sich der
mit weicher Haut bedeckte Vordertheil ganz bergen. Beim Schwimmen und Fressen entfaltet das
Thier sein Räderorgan. Zwei halbschüsselförmige, durch Muskeln einziehbare Fleischlappen
tragen auf ihrem freien Rande eine Reihe zarter Wimpern, welche willkürlich in schwingende
Bewegung versetzt werden können und dann in ihrer Gesammtheit bei manchen Räderthieren den
Eindruck machen, als ob zwei Räder sich rasch um ihre Axe drehten.

Diese Erscheinung, von welcher man die ganze Klasse benannt hat, ist für Jeden, der sie
zum ersten Male sieht, so überraschend, daß man sich nicht wundern kann, wie sie bis in die
neuere Zeit den Eindruck des Wunderbaren gemacht hat und noch im Jahre 1812 zu der
ernstlichen Annahme verleitete, es sei eine wirkliche Radbewegung. Man hat eine Reihe von
Erklärungen dafür aufgestellt, unter andern sie mit jenem unterhaltenden optischen Spielwerk
verglichen, wodurch an einer engen Oeffnung eine Reihe von Figuren in verschiedenen, einander
folgenden Stellungen vorüber ziehen, und man den Eindruck hat, als ob eine einzige Gestalt sich
bewegte. Ehrenberg sagt: "Jede Wimper dreht sich nur einfach auf ihrer Basis, sowie der
Arm eines Menschen in seiner Gelenkpfanne, und beschreibt dadurch mit ihrer Spitze einen Kreis
und mit der ganzen Länge einen Kegel. Selbst ohne Verschiedenheit in der Zeitfolge des Anfanges
muß dabei durch das dem Auge bald näher, bald ferner Stehen der Wimpern eine gewisse
Lebendigkeit in den Kreis kommen, die, sobald alle Wimpern sich nach gleicher Richtung umdrehen,
einem laufenden Rade gleichen wird." Jedenfalls handelt es sich um rasch auf einander folgende
einzelne Gesichtsaffektionen, welche sich derartig ab- und auslösen, daß sie den Eindruck einer
einzigen, zusammenhängenden Bewegung machen. Beim Noteus sehen wir zwischen den beiden
großen Räderlappen einen ebenfalls mit Wimpern bedeckten Kegel. Zahlreiche Abänderungen in
der Entwicklung des "Räderorgans" kommen in der Klasse vor. Die abweichendste Form hat wohl
das Blumenthierchen (siehe die Abbildung Floscularia appendiculata, S. 676).

Das Wirbeln und Strudeln der Räderorgane läßt die Thiere sehr elegant und mit einer
langsamen, spiraligen Drehung schwimmen. Zugleich wird durch diesen Strudel und den Wimper-
besatz des in den Mund hineinführenden Trichters die Nahrung zugeführt, und dies geschieht namentlich,
wenn das Thier sich mit Hilfe seiner am Hinterende befindlichen Zange gleichsam vor Anker gelegt
hat und dann die Wimpern spielen läßt. Thut man dann in den Tropfen, in welchem man das
Räderthier unter dem Mikroskop beobachtet, fein zertheilten Farbstoff, Jndigo oder Karmin, so
kann man die heftigen Wirbel und das Anhäufen der Nahrung vor dem Munde verfolgen.

Die Räderthiere sind mit einem Paar Kiefern ausgestattet. Beim Noteus sind dieselben
ungefähr handförmig, in vielen anderen Fällen gleichen sie einer Spitzzange, bei allen Gattungen
haben sie eine so bestimmte Form, daß sie nicht minder charakteristische Kennzeichen abgeben, als
die Zähne der Säugethiere, und daß man gerade so wie bei diesen aus ihrer Form auf die
Lebensweise des Thieres schließen kann. Jch erinnere mich aus der Zeit, als ich ein eifriger
Schüler des Professor Ehrenberg war, daß ihm von weit her ein Gläschen mit Wasser geschickt
wurde, in welchem ein Räderthier sich befinden sollte. Dem Sender lag daran, zu wissen, welche
Art es sei. Trotz eifrigen Suchens mit der Lupe war wenigstens von einem lebendigen Räder-
thier nichts zu entdecken; es war, obwohl mit Schnellpost gegangen, abgestorben. "Aber die
Kiefern müssen doch da sein, auch wenn der übrige Körper sich zersetzt hat!" sagte mein Lehrer,
und richtig, als das Wasser behutsam abgeschüttet war, fanden sich im letzten Tröpfchen die
kalkigen Organe und ließen die sichere Bestimmung der Species zu. Jn der Mitte des Noteus
zieht sich ein buchtiger, sehr geräumiger Darmkanal (a) herab. Allen Räderthieren kann man
in den Magen sehen und dabei wahrnehmen, wie die aufgenommene Speise durch eine Wimper-
bekleidung der Darmwandung in einer kreisenden Bewegung erhalten wird. Es wird dadurch

Taschenberg und Schmidt, wirbellose Thiere. (Brehm, Thierleben. VI.) 43

Allgemeines über die Räderthiere.
anzunehmen, daß ſowohl die panzerartigen als weichen Hautbedeckungen aus jener die Glieder-
thiere charakteriſirenden Subſtanz, dem Chitin, beſtehen. Der Panzer unſeres Muſterthierchens
iſt vorn zierlich ausgeſchweift und mit hornartigen Fortſätzen verſehen. Unter ihm kann ſich der
mit weicher Haut bedeckte Vordertheil ganz bergen. Beim Schwimmen und Freſſen entfaltet das
Thier ſein Räderorgan. Zwei halbſchüſſelförmige, durch Muskeln einziehbare Fleiſchlappen
tragen auf ihrem freien Rande eine Reihe zarter Wimpern, welche willkürlich in ſchwingende
Bewegung verſetzt werden können und dann in ihrer Geſammtheit bei manchen Räderthieren den
Eindruck machen, als ob zwei Räder ſich raſch um ihre Axe drehten.

Dieſe Erſcheinung, von welcher man die ganze Klaſſe benannt hat, iſt für Jeden, der ſie
zum erſten Male ſieht, ſo überraſchend, daß man ſich nicht wundern kann, wie ſie bis in die
neuere Zeit den Eindruck des Wunderbaren gemacht hat und noch im Jahre 1812 zu der
ernſtlichen Annahme verleitete, es ſei eine wirkliche Radbewegung. Man hat eine Reihe von
Erklärungen dafür aufgeſtellt, unter andern ſie mit jenem unterhaltenden optiſchen Spielwerk
verglichen, wodurch an einer engen Oeffnung eine Reihe von Figuren in verſchiedenen, einander
folgenden Stellungen vorüber ziehen, und man den Eindruck hat, als ob eine einzige Geſtalt ſich
bewegte. Ehrenberg ſagt: „Jede Wimper dreht ſich nur einfach auf ihrer Baſis, ſowie der
Arm eines Menſchen in ſeiner Gelenkpfanne, und beſchreibt dadurch mit ihrer Spitze einen Kreis
und mit der ganzen Länge einen Kegel. Selbſt ohne Verſchiedenheit in der Zeitfolge des Anfanges
muß dabei durch das dem Auge bald näher, bald ferner Stehen der Wimpern eine gewiſſe
Lebendigkeit in den Kreis kommen, die, ſobald alle Wimpern ſich nach gleicher Richtung umdrehen,
einem laufenden Rade gleichen wird.“ Jedenfalls handelt es ſich um raſch auf einander folgende
einzelne Geſichtsaffektionen, welche ſich derartig ab- und auslöſen, daß ſie den Eindruck einer
einzigen, zuſammenhängenden Bewegung machen. Beim Noteus ſehen wir zwiſchen den beiden
großen Räderlappen einen ebenfalls mit Wimpern bedeckten Kegel. Zahlreiche Abänderungen in
der Entwicklung des „Räderorgans“ kommen in der Klaſſe vor. Die abweichendſte Form hat wohl
das Blumenthierchen (ſiehe die Abbildung Floscularia appendiculata, S. 676).

Das Wirbeln und Strudeln der Räderorgane läßt die Thiere ſehr elegant und mit einer
langſamen, ſpiraligen Drehung ſchwimmen. Zugleich wird durch dieſen Strudel und den Wimper-
beſatz des in den Mund hineinführenden Trichters die Nahrung zugeführt, und dies geſchieht namentlich,
wenn das Thier ſich mit Hilfe ſeiner am Hinterende befindlichen Zange gleichſam vor Anker gelegt
hat und dann die Wimpern ſpielen läßt. Thut man dann in den Tropfen, in welchem man das
Räderthier unter dem Mikroſkop beobachtet, fein zertheilten Farbſtoff, Jndigo oder Karmin, ſo
kann man die heftigen Wirbel und das Anhäufen der Nahrung vor dem Munde verfolgen.

Die Räderthiere ſind mit einem Paar Kiefern ausgeſtattet. Beim Noteus ſind dieſelben
ungefähr handförmig, in vielen anderen Fällen gleichen ſie einer Spitzzange, bei allen Gattungen
haben ſie eine ſo beſtimmte Form, daß ſie nicht minder charakteriſtiſche Kennzeichen abgeben, als
die Zähne der Säugethiere, und daß man gerade ſo wie bei dieſen aus ihrer Form auf die
Lebensweiſe des Thieres ſchließen kann. Jch erinnere mich aus der Zeit, als ich ein eifriger
Schüler des Profeſſor Ehrenberg war, daß ihm von weit her ein Gläschen mit Waſſer geſchickt
wurde, in welchem ein Räderthier ſich befinden ſollte. Dem Sender lag daran, zu wiſſen, welche
Art es ſei. Trotz eifrigen Suchens mit der Lupe war wenigſtens von einem lebendigen Räder-
thier nichts zu entdecken; es war, obwohl mit Schnellpoſt gegangen, abgeſtorben. „Aber die
Kiefern müſſen doch da ſein, auch wenn der übrige Körper ſich zerſetzt hat!“ ſagte mein Lehrer,
und richtig, als das Waſſer behutſam abgeſchüttet war, fanden ſich im letzten Tröpfchen die
kalkigen Organe und ließen die ſichere Beſtimmung der Species zu. Jn der Mitte des Noteus
zieht ſich ein buchtiger, ſehr geräumiger Darmkanal (a) herab. Allen Räderthieren kann man
in den Magen ſehen und dabei wahrnehmen, wie die aufgenommene Speiſe durch eine Wimper-
bekleidung der Darmwandung in einer kreiſenden Bewegung erhalten wird. Es wird dadurch

Taſchenberg und Schmidt, wirbelloſe Thiere. (Brehm, Thierleben. VI.) 43
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[673/0717] Allgemeines über die Räderthiere. anzunehmen, daß ſowohl die panzerartigen als weichen Hautbedeckungen aus jener die Glieder- thiere charakteriſirenden Subſtanz, dem Chitin, beſtehen. Der Panzer unſeres Muſterthierchens iſt vorn zierlich ausgeſchweift und mit hornartigen Fortſätzen verſehen. Unter ihm kann ſich der mit weicher Haut bedeckte Vordertheil ganz bergen. Beim Schwimmen und Freſſen entfaltet das Thier ſein Räderorgan. Zwei halbſchüſſelförmige, durch Muskeln einziehbare Fleiſchlappen tragen auf ihrem freien Rande eine Reihe zarter Wimpern, welche willkürlich in ſchwingende Bewegung verſetzt werden können und dann in ihrer Geſammtheit bei manchen Räderthieren den Eindruck machen, als ob zwei Räder ſich raſch um ihre Axe drehten. Dieſe Erſcheinung, von welcher man die ganze Klaſſe benannt hat, iſt für Jeden, der ſie zum erſten Male ſieht, ſo überraſchend, daß man ſich nicht wundern kann, wie ſie bis in die neuere Zeit den Eindruck des Wunderbaren gemacht hat und noch im Jahre 1812 zu der ernſtlichen Annahme verleitete, es ſei eine wirkliche Radbewegung. Man hat eine Reihe von Erklärungen dafür aufgeſtellt, unter andern ſie mit jenem unterhaltenden optiſchen Spielwerk verglichen, wodurch an einer engen Oeffnung eine Reihe von Figuren in verſchiedenen, einander folgenden Stellungen vorüber ziehen, und man den Eindruck hat, als ob eine einzige Geſtalt ſich bewegte. Ehrenberg ſagt: „Jede Wimper dreht ſich nur einfach auf ihrer Baſis, ſowie der Arm eines Menſchen in ſeiner Gelenkpfanne, und beſchreibt dadurch mit ihrer Spitze einen Kreis und mit der ganzen Länge einen Kegel. Selbſt ohne Verſchiedenheit in der Zeitfolge des Anfanges muß dabei durch das dem Auge bald näher, bald ferner Stehen der Wimpern eine gewiſſe Lebendigkeit in den Kreis kommen, die, ſobald alle Wimpern ſich nach gleicher Richtung umdrehen, einem laufenden Rade gleichen wird.“ Jedenfalls handelt es ſich um raſch auf einander folgende einzelne Geſichtsaffektionen, welche ſich derartig ab- und auslöſen, daß ſie den Eindruck einer einzigen, zuſammenhängenden Bewegung machen. Beim Noteus ſehen wir zwiſchen den beiden großen Räderlappen einen ebenfalls mit Wimpern bedeckten Kegel. Zahlreiche Abänderungen in der Entwicklung des „Räderorgans“ kommen in der Klaſſe vor. Die abweichendſte Form hat wohl das Blumenthierchen (ſiehe die Abbildung Floscularia appendiculata, S. 676). Das Wirbeln und Strudeln der Räderorgane läßt die Thiere ſehr elegant und mit einer langſamen, ſpiraligen Drehung ſchwimmen. Zugleich wird durch dieſen Strudel und den Wimper- beſatz des in den Mund hineinführenden Trichters die Nahrung zugeführt, und dies geſchieht namentlich, wenn das Thier ſich mit Hilfe ſeiner am Hinterende befindlichen Zange gleichſam vor Anker gelegt hat und dann die Wimpern ſpielen läßt. Thut man dann in den Tropfen, in welchem man das Räderthier unter dem Mikroſkop beobachtet, fein zertheilten Farbſtoff, Jndigo oder Karmin, ſo kann man die heftigen Wirbel und das Anhäufen der Nahrung vor dem Munde verfolgen. Die Räderthiere ſind mit einem Paar Kiefern ausgeſtattet. Beim Noteus ſind dieſelben ungefähr handförmig, in vielen anderen Fällen gleichen ſie einer Spitzzange, bei allen Gattungen haben ſie eine ſo beſtimmte Form, daß ſie nicht minder charakteriſtiſche Kennzeichen abgeben, als die Zähne der Säugethiere, und daß man gerade ſo wie bei dieſen aus ihrer Form auf die Lebensweiſe des Thieres ſchließen kann. Jch erinnere mich aus der Zeit, als ich ein eifriger Schüler des Profeſſor Ehrenberg war, daß ihm von weit her ein Gläschen mit Waſſer geſchickt wurde, in welchem ein Räderthier ſich befinden ſollte. Dem Sender lag daran, zu wiſſen, welche Art es ſei. Trotz eifrigen Suchens mit der Lupe war wenigſtens von einem lebendigen Räder- thier nichts zu entdecken; es war, obwohl mit Schnellpoſt gegangen, abgeſtorben. „Aber die Kiefern müſſen doch da ſein, auch wenn der übrige Körper ſich zerſetzt hat!“ ſagte mein Lehrer, und richtig, als das Waſſer behutſam abgeſchüttet war, fanden ſich im letzten Tröpfchen die kalkigen Organe und ließen die ſichere Beſtimmung der Species zu. Jn der Mitte des Noteus zieht ſich ein buchtiger, ſehr geräumiger Darmkanal (a) herab. Allen Räderthieren kann man in den Magen ſehen und dabei wahrnehmen, wie die aufgenommene Speiſe durch eine Wimper- bekleidung der Darmwandung in einer kreiſenden Bewegung erhalten wird. Es wird dadurch Taſchenberg und Schmidt, wirbelloſe Thiere. (Brehm, Thierleben. VI.) 43

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 6. Hildburghausen, 1869, S. 673. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben06_1869/717>, abgerufen am 23.11.2024.