die Persönlichkeit des Polyklet. Fast die Hälfte aller genann- ten Künstler sind nach dem ausdrücklichen Zeugnisse der Alten Schüler des Polyklet, die andere Hälfte arbeitet mit diesen Schülern gemeinsam, oder es sind Schüler der Schüler. Kein Einzelner unter ihnen ragt in solcher Weise hervor, dass er wieder als Begründer einer neuen Schule von eigenthümlicher Richtung gelten könnte. Als das wesentlichste Verdienst des Polyklet haben wir aber oben hervorgehoben, dass er der Kunst eine theoretische Grundlage gab, dass er durch Lehre nicht weniger, als durch seine Werke darauf hinarbeitete, je- der falschen Richtung, welche durch Unwissenheit oder durch willkürliche, wenn auch geistreiche Laune sich etwa hätte gel- tend machen wollen, allen weitergreifenden Einfluss abzu- schneiden. Die Früchte dieses seines Strebens zeigen sich nun an seinen Schülern. Nicht geniale Kühnheit, welche durch lebendige Wahrheit die Natur zum Wettkampf herauszufor- dern scheint, nicht gewaltige, grossartige Erhabenheit, welche sich über das Irdische zu erheben strebt, bilden das Wesen dieser Schule; wohl aber finden wir eine Reihe von tüchtigen Werken, correct und ohne Makel bis ins Feinste durchgeführt. Solchen Werken wird eine volle und lebhafte Anerkennung in der Regel nur bei Sachverständigen, bei Künstlern zu Theil. Der blosse Liebhaber freut sich daran, an der Reinheit, an der ungetrübten Schönheit, empfindet aber mehr ein stilles Behagen, welchem es schwer wird, Worte zu geben, weil dazu das blosse, auch noch so richtige Gefühl nicht aus- reicht, sondern ein bestimmtes künstlerisches Wissen noth- wendig ist. Diesem Umstande mögen wir es zuschreiben, dass die Werke dieser Schule weniger, als die freilich geistreiche- ren der Attiker, Bewunderer in Worten gefunden haben, in ähnlicher Weise, wie auch heute von manchen Werken, wel- che die Künstler mit Eifer und unablässig studiren, in den Büchern über Kunstgeschichte kaum ein Wort zu finden ist. --
Wir haben versucht, von den Eigenthümlichkeiten der atti- schen und argivischen Kunstschulen ein Bild in wenigen ein- fachen, aber möglichst klaren und bestimmten Zügen zu ent- werfen; und sind dabei zu dem Ergebnisse gelangt, dass wir es im Wesentlichen nur mit der Fortsetzung dessen zu thun hatten, was durch Phidias, Myron, Polyklet anerkannte Gel- tung gewonnen hatte. Wollen wir daher noch besonders auf
die Persönlichkeit des Polyklet. Fast die Hälfte aller genann- ten Künstler sind nach dem ausdrücklichen Zeugnisse der Alten Schüler des Polyklet, die andere Hälfte arbeitet mit diesen Schülern gemeinsam, oder es sind Schüler der Schüler. Kein Einzelner unter ihnen ragt in solcher Weise hervor, dass er wieder als Begründer einer neuen Schule von eigenthümlicher Richtung gelten könnte. Als das wesentlichste Verdienst des Polyklet haben wir aber oben hervorgehoben, dass er der Kunst eine theoretische Grundlage gab, dass er durch Lehre nicht weniger, als durch seine Werke darauf hinarbeitete, je- der falschen Richtung, welche durch Unwissenheit oder durch willkürliche, wenn auch geistreiche Laune sich etwa hätte gel- tend machen wollen, allen weitergreifenden Einfluss abzu- schneiden. Die Früchte dieses seines Strebens zeigen sich nun an seinen Schülern. Nicht geniale Kühnheit, welche durch lebendige Wahrheit die Natur zum Wettkampf herauszufor- dern scheint, nicht gewaltige, grossartige Erhabenheit, welche sich über das Irdische zu erheben strebt, bilden das Wesen dieser Schule; wohl aber finden wir eine Reihe von tüchtigen Werken, correct und ohne Makel bis ins Feinste durchgeführt. Solchen Werken wird eine volle und lebhafte Anerkennung in der Regel nur bei Sachverständigen, bei Künstlern zu Theil. Der blosse Liebhaber freut sich daran, an der Reinheit, an der ungetrübten Schönheit, empfindet aber mehr ein stilles Behagen, welchem es schwer wird, Worte zu geben, weil dazu das blosse, auch noch so richtige Gefühl nicht aus- reicht, sondern ein bestimmtes künstlerisches Wissen noth- wendig ist. Diesem Umstande mögen wir es zuschreiben, dass die Werke dieser Schule weniger, als die freilich geistreiche- ren der Attiker, Bewunderer in Worten gefunden haben, in ähnlicher Weise, wie auch heute von manchen Werken, wel- che die Künstler mit Eifer und unablässig studiren, in den Büchern über Kunstgeschichte kaum ein Wort zu finden ist. —
Wir haben versucht, von den Eigenthümlichkeiten der atti- schen und argivischen Kunstschulen ein Bild in wenigen ein- fachen, aber möglichst klaren und bestimmten Zügen zu ent- werfen; und sind dabei zu dem Ergebnisse gelangt, dass wir es im Wesentlichen nur mit der Fortsetzung dessen zu thun hatten, was durch Phidias, Myron, Polyklet anerkannte Gel- tung gewonnen hatte. Wollen wir daher noch besonders auf
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0321"n="308"/>
die Persönlichkeit des Polyklet. Fast die Hälfte aller genann-<lb/>
ten Künstler sind nach dem ausdrücklichen Zeugnisse der Alten<lb/>
Schüler des Polyklet, die andere Hälfte arbeitet mit diesen<lb/>
Schülern gemeinsam, oder es sind Schüler der Schüler. Kein<lb/>
Einzelner unter ihnen ragt in solcher Weise hervor, dass er<lb/>
wieder als Begründer einer neuen Schule von eigenthümlicher<lb/>
Richtung gelten könnte. Als das wesentlichste Verdienst des<lb/>
Polyklet haben wir aber oben hervorgehoben, dass er der<lb/>
Kunst eine theoretische Grundlage gab, dass er durch <hirendition="#g">Lehre</hi><lb/>
nicht weniger, als durch seine Werke darauf hinarbeitete, je-<lb/>
der falschen Richtung, welche durch Unwissenheit oder durch<lb/>
willkürliche, wenn auch geistreiche Laune sich etwa hätte gel-<lb/>
tend machen wollen, allen weitergreifenden Einfluss abzu-<lb/>
schneiden. Die Früchte dieses seines Strebens zeigen sich<lb/>
nun an seinen Schülern. Nicht geniale Kühnheit, welche durch<lb/>
lebendige Wahrheit die Natur zum Wettkampf herauszufor-<lb/>
dern scheint, nicht gewaltige, grossartige Erhabenheit, welche<lb/>
sich über das Irdische zu erheben strebt, bilden das Wesen<lb/>
dieser Schule; wohl aber finden wir eine Reihe von tüchtigen<lb/>
Werken, correct und ohne Makel bis ins Feinste durchgeführt.<lb/>
Solchen Werken wird eine volle und lebhafte Anerkennung<lb/>
in der Regel nur bei Sachverständigen, bei Künstlern zu Theil.<lb/>
Der blosse Liebhaber freut sich daran, an der Reinheit, an<lb/>
der ungetrübten Schönheit, empfindet aber mehr ein stilles<lb/>
Behagen, welchem es schwer wird, Worte zu geben, weil<lb/>
dazu das blosse, auch noch so richtige <hirendition="#g">Gefühl</hi> nicht aus-<lb/>
reicht, sondern ein bestimmtes künstlerisches <hirendition="#g">Wissen</hi> noth-<lb/>
wendig ist. Diesem Umstande mögen wir es zuschreiben, dass<lb/>
die Werke dieser Schule weniger, als die freilich geistreiche-<lb/>
ren der Attiker, Bewunderer in Worten gefunden haben, in<lb/>
ähnlicher Weise, wie auch heute von manchen Werken, wel-<lb/>
che die Künstler mit Eifer und unablässig studiren, in den<lb/>
Büchern über Kunstgeschichte kaum ein Wort zu finden ist. —</p><lb/><p>Wir haben versucht, von den Eigenthümlichkeiten der atti-<lb/>
schen und argivischen Kunstschulen ein Bild in wenigen ein-<lb/>
fachen, aber möglichst klaren und bestimmten Zügen zu ent-<lb/>
werfen; und sind dabei zu dem Ergebnisse gelangt, dass wir<lb/>
es im Wesentlichen nur mit der Fortsetzung dessen zu thun<lb/>
hatten, was durch Phidias, Myron, Polyklet anerkannte Gel-<lb/>
tung gewonnen hatte. Wollen wir daher noch besonders auf<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[308/0321]
die Persönlichkeit des Polyklet. Fast die Hälfte aller genann-
ten Künstler sind nach dem ausdrücklichen Zeugnisse der Alten
Schüler des Polyklet, die andere Hälfte arbeitet mit diesen
Schülern gemeinsam, oder es sind Schüler der Schüler. Kein
Einzelner unter ihnen ragt in solcher Weise hervor, dass er
wieder als Begründer einer neuen Schule von eigenthümlicher
Richtung gelten könnte. Als das wesentlichste Verdienst des
Polyklet haben wir aber oben hervorgehoben, dass er der
Kunst eine theoretische Grundlage gab, dass er durch Lehre
nicht weniger, als durch seine Werke darauf hinarbeitete, je-
der falschen Richtung, welche durch Unwissenheit oder durch
willkürliche, wenn auch geistreiche Laune sich etwa hätte gel-
tend machen wollen, allen weitergreifenden Einfluss abzu-
schneiden. Die Früchte dieses seines Strebens zeigen sich
nun an seinen Schülern. Nicht geniale Kühnheit, welche durch
lebendige Wahrheit die Natur zum Wettkampf herauszufor-
dern scheint, nicht gewaltige, grossartige Erhabenheit, welche
sich über das Irdische zu erheben strebt, bilden das Wesen
dieser Schule; wohl aber finden wir eine Reihe von tüchtigen
Werken, correct und ohne Makel bis ins Feinste durchgeführt.
Solchen Werken wird eine volle und lebhafte Anerkennung
in der Regel nur bei Sachverständigen, bei Künstlern zu Theil.
Der blosse Liebhaber freut sich daran, an der Reinheit, an
der ungetrübten Schönheit, empfindet aber mehr ein stilles
Behagen, welchem es schwer wird, Worte zu geben, weil
dazu das blosse, auch noch so richtige Gefühl nicht aus-
reicht, sondern ein bestimmtes künstlerisches Wissen noth-
wendig ist. Diesem Umstande mögen wir es zuschreiben, dass
die Werke dieser Schule weniger, als die freilich geistreiche-
ren der Attiker, Bewunderer in Worten gefunden haben, in
ähnlicher Weise, wie auch heute von manchen Werken, wel-
che die Künstler mit Eifer und unablässig studiren, in den
Büchern über Kunstgeschichte kaum ein Wort zu finden ist. —
Wir haben versucht, von den Eigenthümlichkeiten der atti-
schen und argivischen Kunstschulen ein Bild in wenigen ein-
fachen, aber möglichst klaren und bestimmten Zügen zu ent-
werfen; und sind dabei zu dem Ergebnisse gelangt, dass wir
es im Wesentlichen nur mit der Fortsetzung dessen zu thun
hatten, was durch Phidias, Myron, Polyklet anerkannte Gel-
tung gewonnen hatte. Wollen wir daher noch besonders auf
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 308. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/321>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.