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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853.

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das Unterscheidende dieser Richtungen aufmerksam machen,
so haben wir kaum etwas anderes zu thun, als uns in das
Gedächtniss zurückzurufen, worin wir das Unterscheidende
jener drei Meister erkannt haben. Wir fanden bei den Atti-
kern überall ein Vorwiegen der Idee. Die dargestellte Gestalt
sollte zunächst einen bestimmten Gedanken aussprechen, sei
dies nun ein rein geistiger Begriff, oder ein aus dem Leben
aufgenommener Moment einer Handlung. Die Argiver dagegen
verfolgten vorzugsweise nur ein einziges Ideal, das Ideal der
körperlichen Vollkommenheit, der schönen Form. Während
daher bei den Attikern poetische Begeisterung und Phantasie
als nothwendig vorausgesetzt werden müssen, um die Idee
klar im Geiste anzuschauen und eben so klar aus dem Geiste
wieder zur Darstellung zu bringen, beruhten die Vorzüge der
argivischen Schule auf einem gründlichen Studium, auf dem
künstlerischen Wissen, welches auch in den Mängeln der wirk-
lichen Erscheinungen die Regel, das Gesetz der vollkommenen
Bildung zu erkennen, und dadurch den darzustellenden Gestal-
ten den Reiz einer höheren Wahrheit zu verleihen vermag.

Die inneren Ursachen des angegebenen Entwickelungs-
ganges, so wie der strengen Scheidung der verschiedenen
Schulen, möchte schwerlich jetzt jemand zu bestimmen wagen,
namentlich so lange wir über die vorhergehende Periode nicht
genauer unterrichtet sind. Den wesentlichsten Einfluss müssen
wir immer den geistigen Eigenthümlichkeiten der Begründer
dieser Schulen zuerkennen. Aber selbst wenn durch sie der
Anstoss gegeben war, so durfte doch zu einer naturgemässen
Entwickelung auch eine günstige Gestaltung der äusseren Um-
stände nicht fehlen. Nehmen wir z. B. an, Phidias sei in
einem kleinen, von Hülfsmitteln entblössten Staate aufgetreten,
würde sich wohl sein Geist in seiner ganzen Gewaltigkeit ha-
ben entwickeln können? In Athen dagegen war, als er zu
wirken begann, die Kunst zu einer Staatssache geworden.
Für die grossartigsten Schöpfungen fand er die Mittel bereit;
ja die gebotenen Mittel mussten den Künstler zu grossartigen
Schöpfungen sogar anfeuern. War hier der Erfolg ein glän-
zender, so kann es nicht auffallen, dass man anderwärts, wo
man nach einer Verherrlichung der religiösen Heiligthümer
durch die Kunst strebte, sich dorthin wendete, wo man die
Aufgabe schon gelöst sah. So wandert die attische Kunst

das Unterscheidende dieser Richtungen aufmerksam machen,
so haben wir kaum etwas anderes zu thun, als uns in das
Gedächtniss zurückzurufen, worin wir das Unterscheidende
jener drei Meister erkannt haben. Wir fanden bei den Atti-
kern überall ein Vorwiegen der Idee. Die dargestellte Gestalt
sollte zunächst einen bestimmten Gedanken aussprechen, sei
dies nun ein rein geistiger Begriff, oder ein aus dem Leben
aufgenommener Moment einer Handlung. Die Argiver dagegen
verfolgten vorzugsweise nur ein einziges Ideal, das Ideal der
körperlichen Vollkommenheit, der schönen Form. Während
daher bei den Attikern poetische Begeisterung und Phantasie
als nothwendig vorausgesetzt werden müssen, um die Idee
klar im Geiste anzuschauen und eben so klar aus dem Geiste
wieder zur Darstellung zu bringen, beruhten die Vorzüge der
argivischen Schule auf einem gründlichen Studium, auf dem
künstlerischen Wissen, welches auch in den Mängeln der wirk-
lichen Erscheinungen die Regel, das Gesetz der vollkommenen
Bildung zu erkennen, und dadurch den darzustellenden Gestal-
ten den Reiz einer höheren Wahrheit zu verleihen vermag.

Die inneren Ursachen des angegebenen Entwickelungs-
ganges, so wie der strengen Scheidung der verschiedenen
Schulen, möchte schwerlich jetzt jemand zu bestimmen wagen,
namentlich so lange wir über die vorhergehende Periode nicht
genauer unterrichtet sind. Den wesentlichsten Einfluss müssen
wir immer den geistigen Eigenthümlichkeiten der Begründer
dieser Schulen zuerkennen. Aber selbst wenn durch sie der
Anstoss gegeben war, so durfte doch zu einer naturgemässen
Entwickelung auch eine günstige Gestaltung der äusseren Um-
stände nicht fehlen. Nehmen wir z. B. an, Phidias sei in
einem kleinen, von Hülfsmitteln entblössten Staate aufgetreten,
würde sich wohl sein Geist in seiner ganzen Gewaltigkeit ha-
ben entwickeln können? In Athen dagegen war, als er zu
wirken begann, die Kunst zu einer Staatssache geworden.
Für die grossartigsten Schöpfungen fand er die Mittel bereit;
ja die gebotenen Mittel mussten den Künstler zu grossartigen
Schöpfungen sogar anfeuern. War hier der Erfolg ein glän-
zender, so kann es nicht auffallen, dass man anderwärts, wo
man nach einer Verherrlichung der religiösen Heiligthümer
durch die Kunst strebte, sich dorthin wendete, wo man die
Aufgabe schon gelöst sah. So wandert die attische Kunst

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[309/0322] das Unterscheidende dieser Richtungen aufmerksam machen, so haben wir kaum etwas anderes zu thun, als uns in das Gedächtniss zurückzurufen, worin wir das Unterscheidende jener drei Meister erkannt haben. Wir fanden bei den Atti- kern überall ein Vorwiegen der Idee. Die dargestellte Gestalt sollte zunächst einen bestimmten Gedanken aussprechen, sei dies nun ein rein geistiger Begriff, oder ein aus dem Leben aufgenommener Moment einer Handlung. Die Argiver dagegen verfolgten vorzugsweise nur ein einziges Ideal, das Ideal der körperlichen Vollkommenheit, der schönen Form. Während daher bei den Attikern poetische Begeisterung und Phantasie als nothwendig vorausgesetzt werden müssen, um die Idee klar im Geiste anzuschauen und eben so klar aus dem Geiste wieder zur Darstellung zu bringen, beruhten die Vorzüge der argivischen Schule auf einem gründlichen Studium, auf dem künstlerischen Wissen, welches auch in den Mängeln der wirk- lichen Erscheinungen die Regel, das Gesetz der vollkommenen Bildung zu erkennen, und dadurch den darzustellenden Gestal- ten den Reiz einer höheren Wahrheit zu verleihen vermag. Die inneren Ursachen des angegebenen Entwickelungs- ganges, so wie der strengen Scheidung der verschiedenen Schulen, möchte schwerlich jetzt jemand zu bestimmen wagen, namentlich so lange wir über die vorhergehende Periode nicht genauer unterrichtet sind. Den wesentlichsten Einfluss müssen wir immer den geistigen Eigenthümlichkeiten der Begründer dieser Schulen zuerkennen. Aber selbst wenn durch sie der Anstoss gegeben war, so durfte doch zu einer naturgemässen Entwickelung auch eine günstige Gestaltung der äusseren Um- stände nicht fehlen. Nehmen wir z. B. an, Phidias sei in einem kleinen, von Hülfsmitteln entblössten Staate aufgetreten, würde sich wohl sein Geist in seiner ganzen Gewaltigkeit ha- ben entwickeln können? In Athen dagegen war, als er zu wirken begann, die Kunst zu einer Staatssache geworden. Für die grossartigsten Schöpfungen fand er die Mittel bereit; ja die gebotenen Mittel mussten den Künstler zu grossartigen Schöpfungen sogar anfeuern. War hier der Erfolg ein glän- zender, so kann es nicht auffallen, dass man anderwärts, wo man nach einer Verherrlichung der religiösen Heiligthümer durch die Kunst strebte, sich dorthin wendete, wo man die Aufgabe schon gelöst sah. So wandert die attische Kunst

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Zitationshilfe: Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 309. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/322>, abgerufen am 22.11.2024.