und, obschon dies weniger glaublich klingt und schwerlich durchgängig der Fall war, mit geschlossenen Augen gebildet. Er nun öffnete dieselben, löste die Arme vom Körper los und liess die Füsse ausschreiten 1). Diese Neuerungen mussten al- lerdings in jener ältesten Zeit eine überraschende Wirkung hervorbringen und erklären hinlänglich das Staunen über die Lebendigkeit der Bilder. Im Uebrigen mochten sie, wie Pau- sanias 2) sich ausdrückt, noch ziemlich wunderlich anzuschauen sein, gleichwohl aber selbst aus ihnen schon eine gewisse Gottbegeisterung hervorleuchten.
Da unsere Nachrichten nicht weiter in Einzelnes eingehen, so bleibt unsere Kenntniss freilich sehr oberflächlich. Aber dennoch genügt sie, eine Thatsache von grosser Bedeutung in klares Licht zu stellen, nemlich die gänzliche Verschieden- heit daedalischer und aegyptischer Kunst 3). Zwar könnten wir uns schon an dem Zeugnisse des Pausanias 4) genügen lassen, der alt-attische, aeginetische, aegyptische Werke be- stimmt von einander scheidet. Wir könnten uns ferner darauf berufen, dass ein geübtes Auge nimmer ein aegyptisches und ein altgriechisches Werk verwechseln wird. Aber die Nach- richten über Daedalos geben uns die positiven Kennzeichen zur Unterscheidung seiner und der aegyptischen Kunst an. In den Bildern der Aegypter liegen die Arme am Körper an; keines derselben ist mit freistehenden, rund herum ausge- arbeiteten Schenkeln 5) gebildet, sondern to pode zeugnuntes kai osper enountes istasin 6). Da also Daedalos die griechi- sche Kunst gerade von denjenigen Fesseln frei machte, in denen die aegyptische bis an ihr Ende verharrte, so wäre es höchstens noch möglich, einen Einfluss der einen auf die an- dere in vordaedalischer Zeit anzunehmen, in der aber Steifheit und Unbeholfenheit diesen Einfluss noch keineswegs mit Noth- wendigkeit beweisen. Sonach wird es hinlänglich gerecht- fertigt sein, wenn wir die Wanderungen des Daedalos nach Aegypten für durchaus zweifelhaft erklären. Diodor erhielt seine Nachrichten darüber von den aegyptischen Priestern sei-
1) Schol. Plat. Men. p. 97. Suid. s. v. Daidalou poiemata.
2) II, 4, 5.
3) Vgl. darüber auch Roulez sur le mythe de Dedale considere par rapport a l'origine de l'art grec. Bruxelles. 1835.
4) VII, 5. 3.
5) periskeles, Schol. Luc. Philops. 19.
6) S. die Erklärer zu Diod. I, 89.
und, obschon dies weniger glaublich klingt und schwerlich durchgängig der Fall war, mit geschlossenen Augen gebildet. Er nun öffnete dieselben, löste die Arme vom Körper los und liess die Füsse ausschreiten 1). Diese Neuerungen mussten al- lerdings in jener ältesten Zeit eine überraschende Wirkung hervorbringen und erklären hinlänglich das Staunen über die Lebendigkeit der Bilder. Im Uebrigen mochten sie, wie Pau- sanias 2) sich ausdrückt, noch ziemlich wunderlich anzuschauen sein, gleichwohl aber selbst aus ihnen schon eine gewisse Gottbegeisterung hervorleuchten.
Da unsere Nachrichten nicht weiter in Einzelnes eingehen, so bleibt unsere Kenntniss freilich sehr oberflächlich. Aber dennoch genügt sie, eine Thatsache von grosser Bedeutung in klares Licht zu stellen, nemlich die gänzliche Verschieden- heit daedalischer und aegyptischer Kunst 3). Zwar könnten wir uns schon an dem Zeugnisse des Pausanias 4) genügen lassen, der alt-attische, aeginetische, aegyptische Werke be- stimmt von einander scheidet. Wir könnten uns ferner darauf berufen, dass ein geübtes Auge nimmer ein aegyptisches und ein altgriechisches Werk verwechseln wird. Aber die Nach- richten über Daedalos geben uns die positiven Kennzeichen zur Unterscheidung seiner und der aegyptischen Kunst an. In den Bildern der Aegypter liegen die Arme am Körper an; keines derselben ist mit freistehenden, rund herum ausge- arbeiteten Schenkeln 5) gebildet, sondern τὼ πόδε ζευγνύντες καὶ ὥσπερ ἑνοῦντες ἱστᾶσιν 6). Da also Daedalos die griechi- sche Kunst gerade von denjenigen Fesseln frei machte, in denen die aegyptische bis an ihr Ende verharrte, so wäre es höchstens noch möglich, einen Einfluss der einen auf die an- dere in vordaedalischer Zeit anzunehmen, in der aber Steifheit und Unbeholfenheit diesen Einfluss noch keineswegs mit Noth- wendigkeit beweisen. Sonach wird es hinlänglich gerecht- fertigt sein, wenn wir die Wanderungen des Daedalos nach Aegypten für durchaus zweifelhaft erklären. Diodor erhielt seine Nachrichten darüber von den aegyptischen Priestern sei-
1) Schol. Plat. Men. p. 97. Suid. s. v. Δαιδάλου ποιήματα.
2) II, 4, 5.
3) Vgl. darüber auch Roulez sur le mythe de Dédale considéré par rapport à l’origine de l’art grec. Bruxelles. 1835.
4) VII, 5. 3.
5) περισκελὲς, Schol. Luc. Philops. 19.
6) S. die Erklärer zu Diod. I, 89.
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Er nun öffnete dieselben, löste die Arme vom Körper los und
liess die Füsse ausschreiten 1). Diese Neuerungen mussten al-
lerdings in jener ältesten Zeit eine überraschende Wirkung
hervorbringen und erklären hinlänglich das Staunen über die
Lebendigkeit der Bilder. Im Uebrigen mochten sie, wie Pau-
sanias 2) sich ausdrückt, noch ziemlich wunderlich anzuschauen
sein, gleichwohl aber selbst aus ihnen schon eine gewisse
Gottbegeisterung hervorleuchten.
Da unsere Nachrichten nicht weiter in Einzelnes eingehen,
so bleibt unsere Kenntniss freilich sehr oberflächlich. Aber
dennoch genügt sie, eine Thatsache von grosser Bedeutung
in klares Licht zu stellen, nemlich die gänzliche Verschieden-
heit daedalischer und aegyptischer Kunst 3). Zwar könnten
wir uns schon an dem Zeugnisse des Pausanias 4) genügen
lassen, der alt-attische, aeginetische, aegyptische Werke be-
stimmt von einander scheidet. Wir könnten uns ferner darauf
berufen, dass ein geübtes Auge nimmer ein aegyptisches und
ein altgriechisches Werk verwechseln wird. Aber die Nach-
richten über Daedalos geben uns die positiven Kennzeichen
zur Unterscheidung seiner und der aegyptischen Kunst an. In
den Bildern der Aegypter liegen die Arme am Körper an;
keines derselben ist mit freistehenden, rund herum ausge-
arbeiteten Schenkeln 5) gebildet, sondern τὼ πόδε ζευγνύντες
καὶ ὥσπερ ἑνοῦντες ἱστᾶσιν 6). Da also Daedalos die griechi-
sche Kunst gerade von denjenigen Fesseln frei machte, in
denen die aegyptische bis an ihr Ende verharrte, so wäre es
höchstens noch möglich, einen Einfluss der einen auf die an-
dere in vordaedalischer Zeit anzunehmen, in der aber Steifheit
und Unbeholfenheit diesen Einfluss noch keineswegs mit Noth-
wendigkeit beweisen. Sonach wird es hinlänglich gerecht-
fertigt sein, wenn wir die Wanderungen des Daedalos nach
Aegypten für durchaus zweifelhaft erklären. Diodor erhielt
seine Nachrichten darüber von den aegyptischen Priestern sei-
1) Schol. Plat. Men. p. 97. Suid. s. v. Δαιδάλου ποιήματα.
2) II, 4, 5.
3) Vgl. darüber auch Roulez sur le mythe de Dédale considéré par rapport à
l’origine de l’art grec. Bruxelles. 1835.
4) VII, 5. 3.
5) περισκελὲς,
Schol. Luc. Philops. 19.
6) S. die Erklärer zu Diod. I, 89.
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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/34>, abgerufen am 21.11.2024.
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