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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853.

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ler der Natur oder richtiger der Wirklichkeit nicht nur unter,
sondern er verzichtet überhaupt gänzlich auf seine Selbst-
ständigkeit. Allein der Abdruck liefert, materiell betrachtet,
nur ein Abbild der Oberfläche des Körpers. Der Stoff aber,
aus welchem dieselbe in der Wirklichkeit gebildet wird, die
Haut, besitzt an sich keine feste selbstständige Form, sondern
nur die Fähigkeit sich denjenigen Formen, welche sie um-
schliesst, anzupassen und anzuschmiegen. Eben so wenig hat
sie an der Thätigkeit derjenigen Theile, welche Leben und
Bewegung bewirken, einen selbstständigen, positiven Antheil,
sondern verhält sich zu derselben neutral oder gar negativ,
indem sie jeder bewegenden Kraft, d. h. jedem Muskel, hin-
längliche Freiheit der Bewegung gewährt, aber sie doch ge-
wisse Kreise zu überschreiten verhindert. Diese ihre Function
und Bedeutung allein ist es, in welcher sie von der Kunst
berücksichtigt und behandelt zu werden verdient. Einen bei
weitem grösseren Anspruch aber macht sie in dem über der
Natur geformten Abgusse. Hier erscheinen alle Zufälligkeiten,
und, weil sie ohne Bedeutung für Geist und Handeln der dar-
gestellten Person sind, müssen sie in dem leblosen Stoffe weit
unangenehmer und hässlicher wirken, als im Leben, wo sie im
Flusse der Bewegung sich der Aufmerksamkeit mehr entziehen.
Hier zeigen sich ferner eine Menge von Einzelnheiten, welche,
ich möchte kaum sagen, für den animalischen Lebensprocess,
sondern allein für das Vegetiren des Körpers Bedeutung ha-
ben. Da diese aber wesentlich durch den Stoff, die Fügung
und Zusammensetzung, die Textur desselben bedingt sind, so
müssen sie, in einen anderen Stoff und in eine feste Form
übertragen, einen von der Wirklichkeit sehr verschiedenen
Eindruck hervorbringen. Wir erblicken im Abdrucke die Ober-
fläche des Körpers in Erstarrung und in Folge dessen Leben
und Bewegung aller übrigen Theile gehemmt und ertödtet.
Weit entfernt also, uns ein getreues und wahres Bild der vol-
len Persönlichkeit zu gewähren, bietet uns der Abdruck nichts
als ein Abbild der Hülle derselben in ihrer äusserlichsten phy-
sischen Beschaffenheit ohne Geist und Leben. Die künstleri-
schen Forderungen höherer Art bleiben daher sämmtlich unbe-
friedigt, und an die Stelle einer höheren Naturwahrheit tritt
nichts, als was Plinius als Eigenthümlichkeit des Lysistratos
hervorhebt: similitudines, eine Aehnlichkeit in den Einzeln-

ler der Natur oder richtiger der Wirklichkeit nicht nur unter,
sondern er verzichtet überhaupt gänzlich auf seine Selbst-
ständigkeit. Allein der Abdruck liefert, materiell betrachtet,
nur ein Abbild der Oberfläche des Körpers. Der Stoff aber,
aus welchem dieselbe in der Wirklichkeit gebildet wird, die
Haut, besitzt an sich keine feste selbstständige Form, sondern
nur die Fähigkeit sich denjenigen Formen, welche sie um-
schliesst, anzupassen und anzuschmiegen. Eben so wenig hat
sie an der Thätigkeit derjenigen Theile, welche Leben und
Bewegung bewirken, einen selbstständigen, positiven Antheil,
sondern verhält sich zu derselben neutral oder gar negativ,
indem sie jeder bewegenden Kraft, d. h. jedem Muskel, hin-
längliche Freiheit der Bewegung gewährt, aber sie doch ge-
wisse Kreise zu überschreiten verhindert. Diese ihre Function
und Bedeutung allein ist es, in welcher sie von der Kunst
berücksichtigt und behandelt zu werden verdient. Einen bei
weitem grösseren Anspruch aber macht sie in dem über der
Natur geformten Abgusse. Hier erscheinen alle Zufälligkeiten,
und, weil sie ohne Bedeutung für Geist und Handeln der dar-
gestellten Person sind, müssen sie in dem leblosen Stoffe weit
unangenehmer und hässlicher wirken, als im Leben, wo sie im
Flusse der Bewegung sich der Aufmerksamkeit mehr entziehen.
Hier zeigen sich ferner eine Menge von Einzelnheiten, welche,
ich möchte kaum sagen, für den animalischen Lebensprocess,
sondern allein für das Vegetiren des Körpers Bedeutung ha-
ben. Da diese aber wesentlich durch den Stoff, die Fügung
und Zusammensetzung, die Textur desselben bedingt sind, so
müssen sie, in einen anderen Stoff und in eine feste Form
übertragen, einen von der Wirklichkeit sehr verschiedenen
Eindruck hervorbringen. Wir erblicken im Abdrucke die Ober-
fläche des Körpers in Erstarrung und in Folge dessen Leben
und Bewegung aller übrigen Theile gehemmt und ertödtet.
Weit entfernt also, uns ein getreues und wahres Bild der vol-
len Persönlichkeit zu gewähren, bietet uns der Abdruck nichts
als ein Abbild der Hülle derselben in ihrer äusserlichsten phy-
sischen Beschaffenheit ohne Geist und Leben. Die künstleri-
schen Forderungen höherer Art bleiben daher sämmtlich unbe-
friedigt, und an die Stelle einer höheren Naturwahrheit tritt
nichts, als was Plinius als Eigenthümlichkeit des Lysistratos
hervorhebt: similitudines, eine Aehnlichkeit in den Einzeln-

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[406/0419] ler der Natur oder richtiger der Wirklichkeit nicht nur unter, sondern er verzichtet überhaupt gänzlich auf seine Selbst- ständigkeit. Allein der Abdruck liefert, materiell betrachtet, nur ein Abbild der Oberfläche des Körpers. Der Stoff aber, aus welchem dieselbe in der Wirklichkeit gebildet wird, die Haut, besitzt an sich keine feste selbstständige Form, sondern nur die Fähigkeit sich denjenigen Formen, welche sie um- schliesst, anzupassen und anzuschmiegen. Eben so wenig hat sie an der Thätigkeit derjenigen Theile, welche Leben und Bewegung bewirken, einen selbstständigen, positiven Antheil, sondern verhält sich zu derselben neutral oder gar negativ, indem sie jeder bewegenden Kraft, d. h. jedem Muskel, hin- längliche Freiheit der Bewegung gewährt, aber sie doch ge- wisse Kreise zu überschreiten verhindert. Diese ihre Function und Bedeutung allein ist es, in welcher sie von der Kunst berücksichtigt und behandelt zu werden verdient. Einen bei weitem grösseren Anspruch aber macht sie in dem über der Natur geformten Abgusse. Hier erscheinen alle Zufälligkeiten, und, weil sie ohne Bedeutung für Geist und Handeln der dar- gestellten Person sind, müssen sie in dem leblosen Stoffe weit unangenehmer und hässlicher wirken, als im Leben, wo sie im Flusse der Bewegung sich der Aufmerksamkeit mehr entziehen. Hier zeigen sich ferner eine Menge von Einzelnheiten, welche, ich möchte kaum sagen, für den animalischen Lebensprocess, sondern allein für das Vegetiren des Körpers Bedeutung ha- ben. Da diese aber wesentlich durch den Stoff, die Fügung und Zusammensetzung, die Textur desselben bedingt sind, so müssen sie, in einen anderen Stoff und in eine feste Form übertragen, einen von der Wirklichkeit sehr verschiedenen Eindruck hervorbringen. Wir erblicken im Abdrucke die Ober- fläche des Körpers in Erstarrung und in Folge dessen Leben und Bewegung aller übrigen Theile gehemmt und ertödtet. Weit entfernt also, uns ein getreues und wahres Bild der vol- len Persönlichkeit zu gewähren, bietet uns der Abdruck nichts als ein Abbild der Hülle derselben in ihrer äusserlichsten phy- sischen Beschaffenheit ohne Geist und Leben. Die künstleri- schen Forderungen höherer Art bleiben daher sämmtlich unbe- friedigt, und an die Stelle einer höheren Naturwahrheit tritt nichts, als was Plinius als Eigenthümlichkeit des Lysistratos hervorhebt: similitudines, eine Aehnlichkeit in den Einzeln-

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Zitationshilfe: Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 406. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/419>, abgerufen am 24.11.2024.