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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853.

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reflectirendes Denken zu ersetzen. Auf jeden Fall ist es nicht
die reine plastische Erscheinung der Gestalten, welche uns in
seinem Werke anzieht, sondern der Sinn, welchen er densel-
ben hat beilegen wollen, der uns aber ohne die Inschriften
schwerlich klar geworden sein würde. Es liegt im Wesen
dieser reflectirenden und philosophirenden Richtung, dass sie
nach Begriffen scheidet und erst nachher diese einzelnen Be-
griffe wieder zu grösseren Einheiten zusammenfasst. So er-
scheint der unvergängliche, überallhin verbreitete Ruhm des
Homer durch zwei Personen, Khronos und Oikoumene, vertre-
ten. Was sich auf der Grundlage homerischer Poesie aus der
Behandlung der Sage entwickelt hatte, huldigt ihm hier in
den Gestalten der Istoria, Poiesis, Tragodia und Komodia;
wozu uns die Betrachtung der Natur der Dinge führen soll,
das naht sich ihm als Arete, Mneme, Pistis und Sophia.
Dennoch ist der göttliche Sänger nicht selbst ein Gott: über
ihm stehen die Musen, die Töchter des Zeus und Begleiterin-
nen des Apollo. Nur die Gaben, mit welchen diese Himmli-
schen ihn ausgestattet, gewähren ihm unsterblichen Ruhm;
aber er empfängt ihn nicht als einer ihres Gleichen, sondern
als ihr Vertreter auf Erden.

In allen diesen Beziehungen, deren viele noch unerforscht
in dem Werke liegen mögen, verräth sich sicherlich ein feiner
Sinn; allein dennoch fühlen wir nicht das Walten einer freien
Poesie, sondern den mit Ueberlegung ordnenden, nach gewis-
sen Gesichtspunkten gliedernden und zusammensetzenden Geist
des Künstlers; und mehr als unsere Phantasie wird jedenfalls,
indem wir diese Beziehungen verfolgen, unser Denkvermögen
in Anspruch genommen. Leider sind wir für jetzt nicht im
Stande, aus dem bisher Gesagten bestimmte historische Folge-
rungen abzuleiten, da über die Anwendung des Symbolischen
bei den Griechen und seine Umwandlung in die vollständige
Allegorie noch keine zusammenhängenden Untersuchungen im
Einzelnen vorliegen, allgemeine Behauptungen aber, wie etwa,
dass die Auffassung der Apotheose durchaus dem Geiste der
alexandrinischen gelehrten Epoche entspreche, nur geringen
Werth haben können.

Eben so wenig finden wir, wenn wir jetzt das Werk unter
künstlerischem Gesichtspunkte betrachten, den Boden weit ge-
nug geebnet, um die nöthigen Untersuchungen zu einem ge-

reflectirendes Denken zu ersetzen. Auf jeden Fall ist es nicht
die reine plastische Erscheinung der Gestalten, welche uns in
seinem Werke anzieht, sondern der Sinn, welchen er densel-
ben hat beilegen wollen, der uns aber ohne die Inschriften
schwerlich klar geworden sein würde. Es liegt im Wesen
dieser reflectirenden und philosophirenden Richtung, dass sie
nach Begriffen scheidet und erst nachher diese einzelnen Be-
griffe wieder zu grösseren Einheiten zusammenfasst. So er-
scheint der unvergängliche, überallhin verbreitete Ruhm des
Homer durch zwei Personen, Χρόνος und Οἰκουμένη, vertre-
ten. Was sich auf der Grundlage homerischer Poesie aus der
Behandlung der Sage entwickelt hatte, huldigt ihm hier in
den Gestalten der Ἱστορία, Ποίησις, Τραγῳδία und Κωμῳδία;
wozu uns die Betrachtung der Natur der Dinge führen soll,
das naht sich ihm als Ἀρετὴ, Μνήμη, Πίστις und Σοφία.
Dennoch ist der göttliche Sänger nicht selbst ein Gott: über
ihm stehen die Musen, die Töchter des Zeus und Begleiterin-
nen des Apollo. Nur die Gaben, mit welchen diese Himmli-
schen ihn ausgestattet, gewähren ihm unsterblichen Ruhm;
aber er empfängt ihn nicht als einer ihres Gleichen, sondern
als ihr Vertreter auf Erden.

In allen diesen Beziehungen, deren viele noch unerforscht
in dem Werke liegen mögen, verräth sich sicherlich ein feiner
Sinn; allein dennoch fühlen wir nicht das Walten einer freien
Poesie, sondern den mit Ueberlegung ordnenden, nach gewis-
sen Gesichtspunkten gliedernden und zusammensetzenden Geist
des Künstlers; und mehr als unsere Phantasie wird jedenfalls,
indem wir diese Beziehungen verfolgen, unser Denkvermögen
in Anspruch genommen. Leider sind wir für jetzt nicht im
Stande, aus dem bisher Gesagten bestimmte historische Folge-
rungen abzuleiten, da über die Anwendung des Symbolischen
bei den Griechen und seine Umwandlung in die vollständige
Allegorie noch keine zusammenhängenden Untersuchungen im
Einzelnen vorliegen, allgemeine Behauptungen aber, wie etwa,
dass die Auffassung der Apotheose durchaus dem Geiste der
alexandrinischen gelehrten Epoche entspreche, nur geringen
Werth haben können.

Eben so wenig finden wir, wenn wir jetzt das Werk unter
künstlerischem Gesichtspunkte betrachten, den Boden weit ge-
nug geebnet, um die nöthigen Untersuchungen zu einem ge-

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[586/0599] reflectirendes Denken zu ersetzen. Auf jeden Fall ist es nicht die reine plastische Erscheinung der Gestalten, welche uns in seinem Werke anzieht, sondern der Sinn, welchen er densel- ben hat beilegen wollen, der uns aber ohne die Inschriften schwerlich klar geworden sein würde. Es liegt im Wesen dieser reflectirenden und philosophirenden Richtung, dass sie nach Begriffen scheidet und erst nachher diese einzelnen Be- griffe wieder zu grösseren Einheiten zusammenfasst. So er- scheint der unvergängliche, überallhin verbreitete Ruhm des Homer durch zwei Personen, Χρόνος und Οἰκουμένη, vertre- ten. Was sich auf der Grundlage homerischer Poesie aus der Behandlung der Sage entwickelt hatte, huldigt ihm hier in den Gestalten der Ἱστορία, Ποίησις, Τραγῳδία und Κωμῳδία; wozu uns die Betrachtung der Natur der Dinge führen soll, das naht sich ihm als Ἀρετὴ, Μνήμη, Πίστις und Σοφία. Dennoch ist der göttliche Sänger nicht selbst ein Gott: über ihm stehen die Musen, die Töchter des Zeus und Begleiterin- nen des Apollo. Nur die Gaben, mit welchen diese Himmli- schen ihn ausgestattet, gewähren ihm unsterblichen Ruhm; aber er empfängt ihn nicht als einer ihres Gleichen, sondern als ihr Vertreter auf Erden. In allen diesen Beziehungen, deren viele noch unerforscht in dem Werke liegen mögen, verräth sich sicherlich ein feiner Sinn; allein dennoch fühlen wir nicht das Walten einer freien Poesie, sondern den mit Ueberlegung ordnenden, nach gewis- sen Gesichtspunkten gliedernden und zusammensetzenden Geist des Künstlers; und mehr als unsere Phantasie wird jedenfalls, indem wir diese Beziehungen verfolgen, unser Denkvermögen in Anspruch genommen. Leider sind wir für jetzt nicht im Stande, aus dem bisher Gesagten bestimmte historische Folge- rungen abzuleiten, da über die Anwendung des Symbolischen bei den Griechen und seine Umwandlung in die vollständige Allegorie noch keine zusammenhängenden Untersuchungen im Einzelnen vorliegen, allgemeine Behauptungen aber, wie etwa, dass die Auffassung der Apotheose durchaus dem Geiste der alexandrinischen gelehrten Epoche entspreche, nur geringen Werth haben können. Eben so wenig finden wir, wenn wir jetzt das Werk unter künstlerischem Gesichtspunkte betrachten, den Boden weit ge- nug geebnet, um die nöthigen Untersuchungen zu einem ge-

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Zitationshilfe: Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 586. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/599>, abgerufen am 22.11.2024.