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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

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§ 13. Die Sippe.
12. Jahrhunderts machen es der Magschaft eines flüchtigen Tot-
schlägers zur Pflicht, sich eidlich von ihm loszusagen (abiurare) und
sich dann von den Magen des Toten Urfehde schwören53 zu lassen.
Der Rechtszwang zur abiuratio lässt vermuten, dass die Magen sie
von altersher freiwillig vornehmen konnten. Schon ein fränkisches
Königsgesetz des sechsten Jahrhunderts setzt voraus, dass die Mag-
schaft die Sache eines flüchtigen Verbrechers nicht zu der ihrigen
macht, sondern sich seiner bemächtigt, um ihn zur gerichtlichen Ver-
antwortung zu stellen54. Ein angelsächsisches Gesetz des Königs Knut
gebietet, dass der Verbrecher, der die busslose That des offenen
Mordes begangen, den Magen der toten Hand ausgeliefert werde.
Das Gebot ist wohl in erster Linie an die Verwandten des Mörders
gerichtet55.

Auch die Staatsgewalt kann das Band zwischen der Sippe und
einem Mitgliede derselben zerschneiden. So kräftig die Sippe im alt-
deutschen Rechtsleben entwickelt ist, so umfassend ihre öffentlich-
rechtlichen Funktionen sind, so steht doch über den einzelnen Ge-
schlechtern die Gesamtheit der Volksgenossen. Ihr Recht ist es, den
Missethäter aus der Friedens- und Rechtsgemeinschaft auszuschliessen,
ihn friedlos zu legen. Die Friedlosigkeit hebt aber auch die Gemein-
schaft des Geächteten mit seiner Sippe auf. Die Sippegenossen
dürfen ihn nicht nur nicht schützen, sondern sie müssen ihn von sich
stossen. Wie er aufgehört hat, Volksgenosse zu sein, darf er auch
nicht mehr als Geschlechtsgenosse behandelt werden56.

Das Gegenstück der Entsippung, die Aufnahme eines Fremden
in den Geschlechtsverband lässt sich zwar bei den Westgermanen
nirgends mehr, wohl aber bei den Nordgermanen nachweisen. Sie
findet sich hier unter dem Namen aetleiding, Geschlechtsleite, und
zwar in zweifacher Anwendung. Im schwedischen Rechte dient sie
dazu, die volle Freilassung, im norwegischen die Legitimation des

lingen der Genootschap te Groningen pro excolendo iure patrio, VII b 115 v. J. 1477,
117 v. J. 1478, 128 v. J. 1481, 132 v. J. 1482. Vgl. Seerp Gratama, Een
Bijdrage tot de rechtsgeschiedenis van Drenthe, 1883, S 303.
53 Z2 f. RG III: Sippe und Wergeld, S 43 Anm 1.
54 Ed. Chilperici c. 10, Cap. I 10: si certe fuerit malus homo qui male in pago
faciat ... et per silvas vadit et in praesentia nec agens nec parentes ipsum ad-
ducere possunt ...
55 Knut II 56. Vgl. K. Maurer, KrÜ I 58 Anm 5.
56 S. unten § 22. Meines Erachtens ein triftiges Argument gegen die Auf-
fassung v. Sybels, dass das germanische Gemeinwesen sich nicht über das Stadium
des Geschlechterstaates hinausgehoben habe.

§ 13. Die Sippe.
12. Jahrhunderts machen es der Magschaft eines flüchtigen Tot-
schlägers zur Pflicht, sich eidlich von ihm loszusagen (abiurare) und
sich dann von den Magen des Toten Urfehde schwören53 zu lassen.
Der Rechtszwang zur abiuratio läſst vermuten, daſs die Magen sie
von altersher freiwillig vornehmen konnten. Schon ein fränkisches
Königsgesetz des sechsten Jahrhunderts setzt voraus, daſs die Mag-
schaft die Sache eines flüchtigen Verbrechers nicht zu der ihrigen
macht, sondern sich seiner bemächtigt, um ihn zur gerichtlichen Ver-
antwortung zu stellen54. Ein angelsächsisches Gesetz des Königs Knut
gebietet, daſs der Verbrecher, der die buſslose That des offenen
Mordes begangen, den Magen der toten Hand ausgeliefert werde.
Das Gebot ist wohl in erster Linie an die Verwandten des Mörders
gerichtet55.

Auch die Staatsgewalt kann das Band zwischen der Sippe und
einem Mitgliede derselben zerschneiden. So kräftig die Sippe im alt-
deutschen Rechtsleben entwickelt ist, so umfassend ihre öffentlich-
rechtlichen Funktionen sind, so steht doch über den einzelnen Ge-
schlechtern die Gesamtheit der Volksgenossen. Ihr Recht ist es, den
Missethäter aus der Friedens- und Rechtsgemeinschaft auszuschlieſsen,
ihn friedlos zu legen. Die Friedlosigkeit hebt aber auch die Gemein-
schaft des Geächteten mit seiner Sippe auf. Die Sippegenossen
dürfen ihn nicht nur nicht schützen, sondern sie müssen ihn von sich
stoſsen. Wie er aufgehört hat, Volksgenosse zu sein, darf er auch
nicht mehr als Geschlechtsgenosse behandelt werden56.

Das Gegenstück der Entsippung, die Aufnahme eines Fremden
in den Geschlechtsverband läſst sich zwar bei den Westgermanen
nirgends mehr, wohl aber bei den Nordgermanen nachweisen. Sie
findet sich hier unter dem Namen ætleiđing, Geschlechtsleite, und
zwar in zweifacher Anwendung. Im schwedischen Rechte dient sie
dazu, die volle Freilassung, im norwegischen die Legitimation des

lingen der Genootschap te Groningen pro excolendo iure patrio, VII b 115 v. J. 1477,
117 v. J. 1478, 128 v. J. 1481, 132 v. J. 1482. Vgl. Seerp Gratama, Een
Bijdrage tot de rechtsgeschiedenis van Drenthe, 1883, S 303.
53 Z2 f. RG III: Sippe und Wergeld, S 43 Anm 1.
54 Ed. Chilperici c. 10, Cap. I 10: si certe fuerit malus homo qui male in pago
faciat … et per silvas vadit et in praesentia nec agens nec parentes ipsum ad-
ducere possunt …
55 Knut II 56. Vgl. K. Maurer, KrÜ I 58 Anm 5.
56 S. unten § 22. Meines Erachtens ein triftiges Argument gegen die Auf-
fassung v. Sybels, daſs das germanische Gemeinwesen sich nicht über das Stadium
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[93/0111] § 13. Die Sippe. 12. Jahrhunderts machen es der Magschaft eines flüchtigen Tot- schlägers zur Pflicht, sich eidlich von ihm loszusagen (abiurare) und sich dann von den Magen des Toten Urfehde schwören 53 zu lassen. Der Rechtszwang zur abiuratio läſst vermuten, daſs die Magen sie von altersher freiwillig vornehmen konnten. Schon ein fränkisches Königsgesetz des sechsten Jahrhunderts setzt voraus, daſs die Mag- schaft die Sache eines flüchtigen Verbrechers nicht zu der ihrigen macht, sondern sich seiner bemächtigt, um ihn zur gerichtlichen Ver- antwortung zu stellen 54. Ein angelsächsisches Gesetz des Königs Knut gebietet, daſs der Verbrecher, der die buſslose That des offenen Mordes begangen, den Magen der toten Hand ausgeliefert werde. Das Gebot ist wohl in erster Linie an die Verwandten des Mörders gerichtet 55. Auch die Staatsgewalt kann das Band zwischen der Sippe und einem Mitgliede derselben zerschneiden. So kräftig die Sippe im alt- deutschen Rechtsleben entwickelt ist, so umfassend ihre öffentlich- rechtlichen Funktionen sind, so steht doch über den einzelnen Ge- schlechtern die Gesamtheit der Volksgenossen. Ihr Recht ist es, den Missethäter aus der Friedens- und Rechtsgemeinschaft auszuschlieſsen, ihn friedlos zu legen. Die Friedlosigkeit hebt aber auch die Gemein- schaft des Geächteten mit seiner Sippe auf. Die Sippegenossen dürfen ihn nicht nur nicht schützen, sondern sie müssen ihn von sich stoſsen. Wie er aufgehört hat, Volksgenosse zu sein, darf er auch nicht mehr als Geschlechtsgenosse behandelt werden 56. Das Gegenstück der Entsippung, die Aufnahme eines Fremden in den Geschlechtsverband läſst sich zwar bei den Westgermanen nirgends mehr, wohl aber bei den Nordgermanen nachweisen. Sie findet sich hier unter dem Namen ætleiđing, Geschlechtsleite, und zwar in zweifacher Anwendung. Im schwedischen Rechte dient sie dazu, die volle Freilassung, im norwegischen die Legitimation des 52 53 Z2 f. RG III: Sippe und Wergeld, S 43 Anm 1. 54 Ed. Chilperici c. 10, Cap. I 10: si certe fuerit malus homo qui male in pago faciat … et per silvas vadit et in praesentia nec agens nec parentes ipsum ad- ducere possunt … 55 Knut II 56. Vgl. K. Maurer, KrÜ I 58 Anm 5. 56 S. unten § 22. Meines Erachtens ein triftiges Argument gegen die Auf- fassung v. Sybels, daſs das germanische Gemeinwesen sich nicht über das Stadium des Geschlechterstaates hinausgehoben habe. 52 lingen der Genootschap te Groningen pro excolendo iure patrio, VII b 115 v. J. 1477, 117 v. J. 1478, 128 v. J. 1481, 132 v. J. 1482. Vgl. Seerp Gratama, Een Bijdrage tot de rechtsgeschiedenis van Drenthe, 1883, S 303.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/111>, abgerufen am 24.11.2024.